VerkehrNahverkehr

Ein neues System kontinuierlicher Eisenbahnen

Prometheus • 21.4.1897

Voraussichtliche Lesezeit rund 5 Minuten.

Wiederholt ist über das System der  Stufenbahnen berichtet worden, welche den Zweck verfolgen, auf irgendeiner in sich zurücklaufenden Linie einen fortdauernden Verkehr von Zügen zu bewirken und den Reisenden zu gestatten, jederzeit in die Züge einzusteigen, ohne dass diese zu halten brauchten. Dieses Ziel ist zu erreichen durch eine Anzahl von aufeinanderfolgenden, mit immer größerer Schnelligkeit sich bewegenden Plattformen. Indem der Passagier von einer zur anderen fortschreitet, wird ihm eine immer größere eigene Geschwindigkeit mitgeteilt, so dass er schließlich ohne irgendwelche Gefahr in den rasch gehenden Zug einsteigen kann. Dass die Sache ausführbar ist, ist bewiesen worden durch die nach diesem System hergestellten Versuchsanlagen, zuerst auf der Columbischen Ausstellung in Chicago,  später auf der Berliner Gewerbeausstellung im Jahr 1896.

Wenn trotzdem wenig Aussicht vorhanden ist, größere, dem wirklichen Verkehr dienende Bahnen, welche nach diesem System eingerichtet sind, entstehen zu sehen, so liegt dies hauptsächlich an der großen Kostspieligkeit derartiger Anlagen. Neuerdings nun ist eine neue Idee dieser Art aufgetaucht, deren Urheber ein französischer Ingenieur Namens Thévenot le Boul ist*. *)  Ein vergleichbares System wurde bereits 1887 beschrieben. Sein System hat sicherlich den Vorzug, einfacher in der Ausführung und damit auch billiger zu sein, wenngleich sich vielleicht andere Bedenken dagegen geltend machen lassen. Da es beabsichtigt wird, auf der kommenden Pariser Weltausstellung des Jahres 1900 eine Versuchsanlage dieser Bahn von Thévenot in Betrieb zu setzen, so ist Aussicht vorhanden, dass wir uns über den praktischen Wert dieser Erfindung klarwerden. Inzwischen wird es genügen, das derselben zugrundeliegende Prinzip anzugeben.

Der Erfinder geht aus von der bekannten Tatsache, dass eine kreisförmige Scheibe, welche um ihren Mittelpunkt in Drehung versetzt wird, den einzelnen Teilen ihrer Masse eine um so schnellere Bewegung verleiht, je weiter nach der Peripherie hin dieselben angeordnet sind. Wenn wir also die Stationen unserer Bahnen in Form von gewaltigen Ringen bauen und diese auf untergelegten Rädern rotieren lassen, so wird die Bewegung an der inneren Seite dieser Ringe so mäßig gehalten werden können, dass man auf einer Treppe emporsteigend, ohne Gefahr die sich bewegende Plattform betreten kann. Wenn man nun auf dieser Plattform nach außen hin fortschreitet, so wird man sich in immer raschere Bewegung versetzt sehen, und die Plattform braucht bloß genügend groß gemacht zu werden, um schließlich den Reisenden, welche an ihrem Umfange angelangt sind, dieselbe Schnelligkeit der Bewegung zu verleihen, welche der in einem Halbkreise an der Plattform vorbei­geführte Zug besitzt. Es bietet sich alsdann nicht die geringste Schwierigkeit, in diesen Zug hineinzusteigen, vorausgesetzt, dass man sich so beeilt, dass dieses Einsteigen beendet ist, ehe man den Punkt erreicht, wo sich Zug und Plattform trennen. Es wird beabsichtigt, dem Zug auf der Pariser Weltausstellung die Schnelligkeit von 12 km/h zu geben, eine Schnelligkeit, wie sie für den Innenverkehr einer großen Stadt ausreichen würde. Kontinuierliche EisenbahnPlan einer kontinuierlichen Eisenbahn nach dem System von Thévenot.
Links eine Endstation, rechts eine Durchgangsstation.
Die Durchmesser der Stations­platt­formen und die Schnelligkeit, mit welcher dieselben in Drehung versetzt werden, wären dann entsprechend zu regeln. Fraglich erscheint bei dieser ganzen Anordnung nur der eine Punkt, wie groß bei der geplanten Einrichtung die Wirkung der Zentrifugalkraft sein wird, welche bei solchen Drehbewegungen natürlich mit zu berücksichtigen ist. Diese Kraft, welche bestrebt ist, die beweglichen, auf der rotierenden Plattform sich befindlichen Objekte an die Peripherie zu schleudern, wird, wenn sie nicht übergroß ist, oft den Reisenden als ein Hilfsmittel erscheinen. Sie wird ihnen die Bewegung von den Zugangsorten nach dem Zuge sehr erleichtern. Es ist die Frage aufgeworfen, ob diese Erleichterung nicht allzu groß werden könnte. Es könnte sich dann ereignen, dass alte und schwächliche Personen auf ihrem Wege von der Mitte nach der Peripherie der Scheibe durch die Zentrifugalkraft zu Boden geschleudert oder weniger sanft in den Zug hinein­befördert werden würden, als ihnen lieb wäre. Wir müssen es dem Erfinder überlassen, den Nachweis zu führen, dass er auch diese Frage berücksichtigt und rechnerisch durchgearbeitet hat. Ohne diesen Nachweis dürfte es ihm wohl schwer werden, die erforderliche Konzession für den Bau, selbst der Versuchsbahn, zu erlangen.

Buchtipp:
Nach der Eröffnung der Berliner Hoch- und Untergrundbahn 1902 war das Interesse der gut situierten westlichen Berliner Vororte an einem Schnellbahnanschluss geweckt. Selbstbewusst und mit der Unterstützung finanzkräftiger Terraingesellschaften entwickelten die Städte Charlottenburg und Wilmersdorf Pläne für die Erweiterung der Berliner U-Bahn, wobei die Beteiligten teilweise sehr eigenwillige Vorstellungen zur Streckenführung hatten.
In diesem Buch schildern ausgewiesene Experten in zeitgenössischen Original-Beiträgen die Entwicklung der Schnellbahnen vom Nollendorfplatz nach Ruhleben, Krumme Lanke und zum Kurfürstendamm zwischen 1906 und 1930.
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  PDF-Leseprobe € 16,90 | 114 Seiten | ISBN: 978-3-7578-8381-2

• Auf epilog.de am 22. November 2025 veröffentlicht

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