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Plattformbahnen in Amerika

Prometheus • 16.11.1892

Vor zwei Jahren trat der deutsche Baumeister Rettig mit dem Gedanken einer wandelnden Straße auf, d. h. einer Eisenbahn, welche aus mehreren gegliederten Plattformen besteht, die ein untergelegtes Gleis fortwährend, also ohne jeden Stationsaufenthalt, befahren. Die untere Plattform bewegt sich etwa mit der Schnelligkeit eines Fußgängers, die zweite doppelt so rasch, und die dritte, mit Sitzbänken versehene, wiederum 50 % rascher als die zweite. Wer die Bahn benutzen will, schwingt sich von dem festen Straßendamm, oder, bei unterirdischer oder oberirdischer Anlage der Plattformbahn, von einem feststehenden Steig aus, mittelst geeigneter Handhaben auf die untere Plattform, von dieser auf die zweite und schließlich auf die dritte, was selbst gebrechlichen Leuten nicht allzu schwer fallen dürfte, weil der Geschwindigkeitsunterschied zwischen den Plattformen sehr gering ist. Will man den Zug verlassen, so springt man von der oberen Plattform auf die zweite usw. herunter.

Fast gleichzeitig wurde in Frankreich eine ähnliche Bahn zur Erleichterung der Besichtigung der 1889er Pariser Ausstellung vorgestellt.

Diese Projekte waren in Amerika nicht unbekannt geblieben, da die dortigen Fachblätter ausführliche illustrierte Beschreibungen, namentlich der Rettigschen Bahn, brachten. Trotzdem traten neuerdings, wie Engeneering mitteilt, vor der Western Society of Engineers ein Max E. Schmidt und ein G. L. Silsbee, ohne irgendwelche Erwähnung ihrer Vorgänger, mit einem ganz ähnlichen Projekt auf, welches sie dreist als ihre Erfindung ausgeben, und auf welches sie auch ein amerikanisches Patent erhalten haben sollen. Allerdings haben sie einige kleine Abänderungen ausgesonnen, die aber nicht gerade als glücklich zu bezeichnen sind. Wenn wir die sehr unklare Beschreibung recht verstehen, nehmen sie auf Erfordern sechs Plattformen in Aussicht, deren erstere in der Stunde 4800 m macht, während die letztere 28 800 m zurücklegt. Auch planen sie die elektrische Fortbewegung der Plattformen. Nach ihrer Berechnung würde die Bahn im Stande sein, stündlich 126 720 Personen zu befördern.

Wenn wir auch nicht verkennen, dass die sechsmalige Turnübung bei jeder Benutzung der Bahn nicht nach jedermanns Geschmack sein dürfte, und dass die Sache leicht an den bedeutenden Kosten der Fortbewegung dreier kilometerlanger Plattformen scheitern könnte, so ist der Gedanke im Großen und Ganzen als genial zu bezeichnen, und es wäre dessen Verwirklichung, wenn auch im kleineren Maßstab, erstrebenswert. Darum hielten wir es für unsere Pflicht, die Prioritätsrechte des deutschen, wie des französischen Erfinders ausdrücklich zu wahren.

Entnommen aus dem Buch:

Neuerscheinung

Die Aufbruchstimmung und der technische Fortschritt im 19. Jahrhundert führten zu immer neuen Erfindungen, die den Verkehr beschleunigen und die Antriebe optimieren sollten. Dabei wurde oft das System von mit Dampflokomotiven bespannten Zügen auf zwei Schienen grundlegend in Frage gestellt. Manche dieser Ideen sind heute wieder aktuell, und so lohnt sich ein unverfälschter Blick auf dieses interessante Kapitel der Verkehrsgeschichte.
  PDF-Leseprobe € 18,90 | 148 Seiten | ISBN: 9-783-7583-7184-4

• Auf epilog.de am 11. Januar 2024 veröffentlicht

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