Verkehr – Straßenverkehr
Einfahrbahn auf dem Dach der Fiat-Werke im Lingotto bei Turin
Das Neue Universum • 1924
Mit dem Ausbau und der Entwicklung der Automobilindustrie entstand auch die Notwendigkeit, die Fahrzeuge vor der Ablieferung einer besonderen Probefahrt zu unterziehen, um die Sicherheit für ihre völlige Fahrbereitschaft zu gewinnen; daher der Brauch, die Fahrzeuge auf der Straße auszuprobieren, bevor sie den Kunden ausgehändigt werden.
Gesamtansicht der Fiat-Werke im Lingotto. Dieses bei einem beschränkten Fabrikationsumfang sehr einfache Verfahren schafft große Schwierigkeiten, wenn die Erzeugung über das Normale hinauswächst, denn es ist nicht leicht, einen zuverlässigen Stab von erprobten Einfahrern zu vereinigen, der, ohne einer ständigen und unmittelbaren Beaufsichtigung unterworfen zu sein, für die volle Betriebssicherheit der Fahrzeuge, die man ihm anvertraut hat, garantieren kann. Außerdem verursacht die größere oder kleinere Entfernung zwischen der Fabrik und dem geeigneten Einfahrgelände immer einen Zeitverlust, der einen weiteren erschwerenden Umstand dieser Probe bildet. Die Fiat-Werke haben alle diese Schwierigkeiten durch eine Schöpfung überwunden, die wohl einzig in der Welt dastehen dürfte. Die Fahrzeuge, welche die Fabrik verlassen, werden durch Lastenaufzüge auf das Dach des großen Fabrikgebäudes gebracht, das in ungefähr 30 m Höhe zu einer ausgezeichneten elliptischen Bahn von 24 m Breite und mehr als einem Kilometer Länge ausgebaut ist.
Dort finden unter der unmittelbaren und ständigen Aufsicht des leitenden technischen Personals die Versuchsfahrten statt, bei denen unter Benutzung der an den beiden äußersten Punkten der Bahn gelegenen mit 6 m überhöhten Kurven die Fahrzeuge mit ihrer Höchstgeschwindigkeit eingefahren werden.
Einfahrbahn auf dem Dach der Fiat-Werke von Norden gesehen.
Diese Bahn bildet, wie aus der ersten Abbildung ersichtlich, das Dach eines riesigen rechtwinkligen Fabrikgebäudes der neuen, ausschließlich zur Herstellung von Automobilen bestimmten Fiat-Fabrik im Lingotto bei Turin, die nebst Ansichten von der Einfahrbahn in den Abbildungen wiedergegeben ist. Das Gebäude besteht aus zwei Hauptteilen und zwei kleineren Flügeln, die zusammen eine Länge von 1160 m einnehmen. Der von ihnen umschlossene Raum ist in vier weite Höfe geteilt, und zwar durch drei Quergebäude, welche die Verbindung zwischen den fünf Stockwerken der beiden Hauptgebäude herstellen. In jeder dieser drei Abteilungen bewegen sich drei Lastenaufzüge mit einer Tragkraft von je 6 t, von denen zusammen mit den in den Flügeln befindlichen 17 Stück vorhanden sind.
Vollkommen in Eisenbeton hergestellt und mit Asphalt belegt, ist die Bahn, wie die Abbildungen auf zeigen, nach außen hin durch eine starke und dichte Mauer von 1,5 m auf den Längsseiten und von 3 m Höhe in den Kurven gesichert. Unter den Erhöhungen der Kurven liegen die Werkstätten zur Einrichtung und Regulierung, zu denen man durch einen am äußersten Punkt der Kurven befindlichen Gang gelangt. Eine leichte Konvexität der Bahn lässt den Regen in Rinnen abfließen, während unter dem Dach gezogene Hochspannungsdampfrohre eine genügende Wärme spenden, um im Winter den Schnee zu schmelzen, so dass die Versuchsfahrten zu jeder Jahreszeit und bei jeder Witterung stattfinden können.
Die drei vorerwähnten Verbindungsbauten des Hauptgebäudes enthalten Revisionswerkstätten, die Hand in Hand mit der Versuchsbahn arbeiten und in denen alle Fahrzeuge vor Beginn der Probefahrt geprüft werden.
Südliche Kurve der Einfahrbahn auf dem Dach der Fiat-Werke.
Mit allem Notwendigen und mit einem Einfahroberbau versehen, kommt jedes Fahrgestell zu einer Erstlingsfahrt über zehn Runden auf die Bahn. Im Anschluss daran wird es durch einen anderen Einfahrer einer zweiten Versuchsfahrt unterworfen. Das Ergebnis der Versuche wird schriftlich dem Chef der Fahrabteilung vorgelegt, der jedes Fahrzeug sofort der Abteilung zurückgibt, die für die Aufhebung eventueller Fehler in Betracht kommt.
Auf der Fahrbahn herrscht eine geschäftige, aber vollkommen geordnete Tätigkeit; die Türen der Aufzüge öffnen sich in regelmäßigen Zwischenräumen, um Fahrgestelle und Fahrzeuge durchzulassen, die zur Probefahrt bestimmt sind. Alle Arten, vom Lastwagen bis zum eleganten Coupé, umkreisen mit der Höchstgeschwindigkeit, jedoch in größter Ordnung, die Fahrbahn, ein eindrucksvolles Bild der Tätigkeit und der Kraftanstrengung zeigend, das noch gekrönt wird durch das wunderbare Panorama der Umgebung. Zu Füßen der Fabrik dehnen sich die Verladerampen mit 8 km langem, in das Netz der Staatseisenbahnen übergehendem Gleisanschluss aus, während sich weiterhin die Stadt Turin mit ihren luftigen, vornehmen Gebäuden in die grüne Landschaft zieht. In der durchsichtigen Luft erheben sich am Horizont die schneebedeckten Spitzen der Alpen als Spender der Wasser, die die motorische Kraft für diesen industriellen Betrieb hergeben. Jenseits des silbernen Bandes des Flusses begrenzt die liebliche mit Gärten und Weinbergen bedeckte Hügelkette die eindrucksvolle Rundschau.