LebensweltenGesellschaft & Soziales

Lina Morgenstern

Wie eine außergewöhnliche Frau in einer Männerwelt Großes vollbrachte

Rundschau für Kultur+Technik • 6.12.2025

Voraussichtliche Lesezeit rund 7 Minuten.

Hochmodern muten die Errungenschaften von Lina Morgenstern (1830 – 1909) an. Sie war Volksküchen-Gründerin, Wohlfahrts-Unternehmerin, Zeitungsverlegerin, Bestsellerautorin, Vorkämpferin für Frieden und Emanzipation sowie fünffache Mutter. Kaum eine andere Frau des 19. Jahrhunderts hat so viele Wohltätigkeitsvereine erfolgreich organisiert.

Leidenschaftliche Unternehmerin

Lina MorgensternLina Morgenstern

Im 19. Jahrhundert durften Frauen per Gesetz weder eine Firma noch einen Verein gründen. Lina gelang all das: Als Gründerin von 17 Volksküchen versorgte sie täglich 10 000 hungrige Menschen. Sie betreute mit ihrem Frauenteam an Berliner Bahnhöfen 300 000 aus dem Krieg von 1870 zurückkehrenden Soldaten: Freund und Feind. Danach initiierte sie über 30 ›Wohl­fahrts-Start­ups‹, die sich um alleinerziehende Mütter, haftentlassene Mädchen, Prosituierte und andere Bedürftige kümmerten. Mit Zeitgenossinnen gründete sie von Friedrich Fröbel inspirierte Kindergärten und exportierte die Idee nach England. Hinter der Maske von Linas quirligem Humor verbarg sich die nervöse Unrast einer leidenschaftlichen Unternehmerin.

Liebesgeschichte mit vertauschten Rollen

Gegen den Willen ihrer Eltern heiratete Lina den um zwei Jahre älteren Theodor. Eine Liebesgeschichte mit vertauschten Rollen: Als ihr Mann mit einem exquisiten Modegeschäft in der Berliner Friedrichstraße in die Pleite schlitterte und die Familie mit fünf Kindern plötzlich brotlos dastand, schrieb sie in nur vier Wochen einen Bestseller: Das Paradies der Kindheit. Über 280 Seiten! Das Handbuch der Fröbel’schen Lehre erlebte sieben Auflagen, wurde in mehrere Sprachen übersetzt und stieß eine öffentliche Diskussion zum Thema gewaltfreie Erziehung an. Später verfasste sie das Universalkochbuch für Gesunde und Kranke mit 2732 Rezepten und über 700 Seiten. Es entwickelte sich zum Welterfolg mit elf Auflagen und zahlreichen Übersetzungen. Weitere Bücher folgten.

Ein Journal ohne Mode, Klatsch und Tratsch

Um mehr Leserinnen und Leser zu erreichen, gründete Lina eine Zeitung. Ausschließlich von Frauen für Frauen. Darin veröffentlichte sie Hinweise, wie Frauen dem damals üblichen Lebensmittelbetrug zu erkennen vermochten, wie sie zu einer besseren Ausbildung gelangten und ihre Rechte einklagen konnten. Vor allem kämpfte Lina darum, dass Frauen zum Abitur zugelassen werden und Universitäten besuchen durften.

Herz & Verstand

Lina entwickelte spezielle Strategien, ging mit heißem Herzen und kühlem Verstand bis an die Grenzen des Umsetzbaren. Bis heute gilt sie als eine der wichtigsten Sozialreformerinnen und maßgebliche Begründerin der ersten Frauen- und Friedensbewegung.

Aus einer wohlhabenden Breslauer Familie stammend brach Lina aus dem von ihren Eltern vorgegebenen Lebensweg aus: Statt sich zu vergnügen und das schöne Leben zu genießen, kämpfte sie für ›das Gute‹. Dabei definierte Lina ›das Gute‹ wie Immanuel Kant: »Gut ist derjenige Wille, der ausschließlich durch Gründe der praktischen Vernunft bestimmt wird und nicht durch Neigungen.«

Kongress mit 1700 Besucherinnen

In ihren frühen Jahren vertrat Lina das Motto: »Erst muss die Not gelindert werden, für politische Visionen bleibt immer noch Zeit.« In der zweiten Hälfte ihres Lebens wollte sie Größeres bewegen, wurde politischer, denn ihr fiel auf: Die Not von über einer Million alleinstehenden Frauen ohne Arbeit nahm stetig zu. Ihre neue Idee: der 1. Internationalen Frauenkongress auf deutschem Boden. Im Herbst 1896 empfing Lina zusammen mit ihren Kolleginnen über 1700 Besucherinnen aus der ganzen Welt im Berliner Roten Rathaus. 65 internationale Zeitungen berichteten neun Tage lang. Die Delegierten forderten das Wahlrecht für Frauen, Zugang zu allen Ausbildungen und Universitäten sowie die juristische Gleichstellung in Geschäftsangelegenheiten. Der Kongress schlug politische Wellen, bald darauf gaben sogar konservative Politiker zu, dass mehr für Frauen getan werden müsse.

Das Geheimnis ihres Erfolgs

Wie hat es die aus einer jüdischen Familie stammende Frau geschafft, trotz Anfeindungen von Antisemiten und Männer­klüngeln ein humanistisches Lebenswerk zu hinterlassen, wie sonst kaum jemand? Was waren ihre Methoden, wie konnte sie sich durchsetzen?

Lina hatte zwei große Geheimnisse: das ihrer unglaublich modernen Ehen und das ihres fulminanten Lebenswerks. Davon erzählt die Biografie Lina Morgenstern – Die Geschichte einer Rebellin, die auf über 700 Quellen beruht, viele davon neu entdeckt und erstmals veröffentlicht. Lina Morgensterns Geschichte ist eine, die Mut macht!

• Gerhard J. Rekel

Buch-Tipp:

Gerhhard Rekel: Lina Morgenstern

Gerhard J. Rekel

Lina Morgenstern

Die Geschichte einer Rebellin

264 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag
ISBN 978-3-218-01466-3

 Kremayr & Scheriau, Wien

Der Autor

Gerhard J. Rekel wurde 1965 in Graz geboren. Er absolvierte die Filmakademie Wien, für die Komödie Trauma erhielt er eine British Academy Nomination, eine Biennale-Einladung und den Japanischen Drehbuchpreis. Er verfasste mehrere Drehbücher für den Tatort und realisierte als Regisseur Wissenschaftsdokus für ARTE, ZDF und andere Sender. Rekel hat mehrere Romane veröffentlicht, u. a. Der Duft des Kaffees. Der zuletzt bei K&S erschienene  Monsieur Orient-Express erhielt den ITB-BookAward 2023 und wurde ins Englische, Französische und Niederländische übersetzt.

 www.gerhardrekel.com

 

Gerhard RekelFoto: Ingrid Götz

• Auf epilog.de am 6. Dezember 2025 veröffentlicht

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