FeuilletonGesellschaft & Soziales

Eine Stunde auf dem Berliner Leihamt

Die Gartenlaube • 1855

Voraussichtliche Lesezeit rund 4 Minuten.

Mit jenem demütigen Gefühl, welches uns beschleicht, wenn wir genötigt sind, profanen Blicken Einsicht in unsere Kasse zu gestatten, trat ich in das Leihamt ein. Schüchtern öffnete ich die Tür und befand mich nun in einem Saal, der durch eine breite Theke in zwei Hälften geteilt war. Jenseits der Barriere befanden sich die Pulte, die Tintenfässer, die Pfandzettel, die Wiegeschalen und die Beamten der Mitleidigkeit; diesseits derselben stand ein geldbedürftiges Publikum, das meist aus alten Frauen und Kindern bestand und nur durch einzelne männliche Individuen schattiert war. Sie drückten sich sämtlich an die Theke, auf deren breiter Platte sie ihre Pfänder ausgebreitet hatten. Die Gleichheit, die man hier vermuten sollte, wo ein gleiches Bedürfnis sie alle herbeiführt, hatte sich jedoch keineswegs hier geltend gemacht, und sowohl vonseiten der Beamten als auch des Publikums wurde denjenigen besondere Achtung gezollt, die mit Pfändern von größerem Wert erschienen waren. Nur unter einer Erfahrung schienen alle zu leiden, die von dem Beamten in großen und lakonischen Schriftzügen Ausdruck gefunden hatte; denn an der Wand hing jene liebenswürdige Papptafel mit den Worten Vor Taschendieben wird gewarnt. Wie dankbar war ich jenen Beamten, die mich auf solche Weise darauf aufmerksam machten, nach meinen Taschen zu fassen, in welchen sich zu meiner Beruhigung nichts befand, was den Instinkt der Taschendiebe auf mich lenken konnte.

Ich legte mein bescheidenes Pfand neben den seidenen Mantel einer in tiefer Trauer gekleideten, sehr hübschen jungen Frau und dem kleinen Wäschebündel eines alten Mütterchens, die liebevoll mein respektables Kleidungsstück betrachtete und seufzend versicherte, dass das Leihamt fast gar nichts mehr auf die Pfänder leihe. Am Ende, seitwärts von mir standen mehrere Glückliche, die noch Goldsachen besaßen und der Reihe nach dem kleinen dicken Taxator für ihre Gegenstände Mitteilungen machten, die ihn von dem nur denkbar höchsten Wert derselben überzeugen sollten und die in lächelnde Entrüstung gerieten, wenn er ihnen versicherte, dass das Pfand nicht so viel wert sei. Sie legten sich dann auf Bitten und beteuerten, dass sie den Gegenstand bald wieder abholen würden – umsonst, der kleine Mann zuckt mit den Achseln und die Pfandgeber fügen sich schließlich in das Unvermeidliche.

In London haben die Leihhäuser eine sehr gute und auf Schonung des peinlichen Gefühls der Armen berechnete Einrichtung, indem sie in zehn bis zwölf kleine und abgeschlossene Zellen eingeteilt sind, die jede ihre besondere Tür vom Flur aus haben und es unmöglich machen, dass einer den anderen sehen kann. Eine so zuvorkommende Artigkeit ist in Berlin nicht, und bei jedem Öffnen der Tür verbirgt ein großer Teil sein Gesicht, bis er sich versichert hat, dass kein ihm Bekannter demselben Schicksal erlegen sei.

Der Beamte, der hier die Wäsche und Kleidungsstücke taxiert, untersucht sucht mit Virtuosität alle ihm dargereichten Pfänder, und vertraut mit den Geheimnissen der verstecktesten Damengarderobe, kennt er auch die Schwächen und Gebrechen derselben, wo sie zuerst zum Vorschein zu kommen pflegen. Er weiß, wie oft ein Kattunkleid schon gewaschen, ein seidenes Kleid schon den Strapazen und handschuhlosen Händen eines Galans ausgesetzt gewesen, und entdeckt mit seiner Kunst die dünnen Stellen an einem Unterrock, die sonst keinem Sterblichen so deutlich zu sehen erlaubt wurden. Die Paletots und Röcke, die Beinkleider und Mäntel seziert er mit anatomischer Schneiderkenntnis und führt einem – auch ich litt darunter – oft die Fadenscheinigkeit, ja selbst Offenherzigkeit eines teuren Models vor Augen, welches wir noch für treu und diskret hielten; aber ein kluger Mann muss nie Häuser auf Tugenden bauen, am allerwenigsten bei Kleidungsstücken.

Meine trauernde Nachbarin hörte seufzend den Preis, der ihr auf den seidenen Mantel geboten wurde und nickte resigniert mit dem Kopf; auch ich seufzte, am Meisten über den elenden Rock, der sich trotz meiner Anstrengung nicht in dem Zustande tadelloser Gediegenheit befand, obgleich ich ihn noch dem Schneider zum Aufbügeln gegeben. Aber unglücklicher erging es dem alten Mütterchen, deren bescheidenes Wäschebündel in den Augen des Taxators hartherzig ohne Wert blieb, und die Arme, die das Beste und Wertvollste ihrer Wirtschaft zusammengesucht, um durch wenige Groschen vielleicht den Hunger ihrer Kinder zu stillen, sie ging gedrückt und mit sichtlichem Widerstreben von dannen, ohne die Wohltaten des Instituts noch in Anspruch nehmen zu können und mit der fester gewurzelten Meinung, dass das Leihamt nichts mehr auf Pfänder leihe.

Währenddessen die Beamten sich beschäftigten, auch das jetzt in meinen Augen gesunkene Kleidungsstück unter die Insassen des Hauses aufzunehmen, sah ich den Beamten immer weiter schreiten und Wäsche, Kleider, Kessel und Tuchsachen in den Hintergrund verschwinden, wo ein Beamter von Zeit zu Zeit erschien, um die ferner nur noch nach Nummern gekannten Pfänder in die Gefängnisse zu bringen, wohin sie hartherzige Mütter und Väter ohne Bedauern geschickt. Endlich erhielt jene trauernde Dame ihr Geld, und auch mein bescheidener Name erklang. Stillvergnügt steckte ich das Geld in meine Tasche, die ich misstrauisch festhielt, hauptsächlich, weil ich ihr den ungewohnten Dienst nicht mehr zutraute, Talerstücke zu tragen.

Als ich unten auf den Hausflur kam, stand jene junge Dame vor einem unangenehmen Mann mit Stock und Blechschild, dem sie das Geld gab.

Was?, rief der Exekutor, da fehlt noch ein Taler.

Die Dame bat flehentlich, sich denselben Morgen zu holen, da sie nicht mehr auf ihren Mantel erhalten hatte. Der Exekutor sah sie forschend an und versprach bis morgen zu warten.

Das schöne trauernde Antlitz der Dame zog mich an. Ich hatte zwar das Geld nicht übrig, aber … Madame, sagte ich, kann ich mit einem kleinen Vorschuss dienen, so befehlen Sie …

Fast erschrocken sah mich die Dame an. Ich danke Ihnen, sagte sie dann mit einem schmerzlichen Lächeln, es wird nicht nötig sein. Mein Emil ruht nunmehr schuldenfrei im Grabe – und der Sargfabrikant wird mit dem letzten Taler wohl auch noch einige Tage warten. Und mich wird Gott doch nicht ganz verlassen.

Sie verneigte sich still und ging. Ich sah ihr lange nach. Die Aufopferung der jungen, schönen Frau für den toten Gatten hatte etwas ungemein Rührendes, besonders in Berlin.

Entnommen aus dem eBook:
Zwei zeitgenössische Beiträge aus der ›Gartenlaube‹ zeigen die Kluft zwischen Arm und Reich Mitte des 19. Jahrhunderts in Berlin. Während die Spekulanten an der Börse mit Devisen und Getreide handeln, müssen andernorts Wäsche und Kleidung verpfändet werden.
eBook € 0,99 | eISBN: 978-3-7562-7640-0

• Auf epilog.de am 4. September 2016 veröffentlicht

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