FeuilletonGesellschaft & Soziales

Der Duft der Kräuter

Lina Morgenstern und die Volksküchen

9. Juli 1866

Rundschau für Kultur+Technik • 9.6.2025

Voraussichtliche Lesezeit rund 9 Minuten.

In Berlin stank es. Überall. Aus den Schornsteinen nach verbranntem Holz. Aus den Hinterhöfen nach den scharfen Laugen der Waschküchen. Am Straßenrand aus den Rinnsalen, gespeist von den Latrinen der Mietshäuser und den Ausscheidungen der Pferde. Die Passanten rochen nach billigem Tabak und faulen Zähnen, manche nach altem Schweiß und kranken Mägen.

Doch aus Linas Keller in der Charlottenstraße 87 duftete es. Nach frischen Zwiebeln und vielerlei Kräutern. Kurz vor halb zehn kostete sie von den beiden fast fertigen Eintöpfen. Die gehaltvollere Speise – bestehend aus Kartoffeln, Bohnen und Speck – mundete. Vor allem die Kräuter, die Lina selbst im Umland besorgt hatte, rundeten den Geschmack ab.

Lina MorgensternLina Morgenstern (1830 – 1909)
Hochmodern muten die Errungenschaften von Lina Morgenstern an: Als Jüdin in Preußen gründete sie die Volksküchen, initiierte über 30 Vereine zur Unterstützung von Frauen in Notlagen und half, den Fröbel-Kindergarten nach England zu exportieren.

Für Lina war Essen wichtig. Immer schon. Die mittägliche Hauptspeise, ein Fundament des Tages. Nahrhaft, über den Nachmittag bringend, bestehend aus Gemüse und auch ein wenig Fleisch. Lina fühlte sich persönlich für die Zusammenstellung verantwortlich. Der leichtere Eintopf aus Brühreis, Karotten, Erbsen und Sellerie behagte Lina nicht, es fehlte an Salz. Ihre Kolleginnen hatten bereits das ganze Fass aufgebraucht und offensichtlich zu wenig eingekauft. In den riesigen Töpfen befand sich jeweils Essen für hundert Personen. Mit diesen Mengen hatten die freiwilligen Helferinnen keine Erfahrung. Auch Lina nicht. Wo sollte sie jetzt auf die Schnelle so viel Salz herbekommen?

In ihrer spontanen Art lief sie los. Sie suchte einen Salzhändler und fand Läden, die Äpfel, Kartoffeln und Pfefferkuchen verkauften, doch keiner verfügte über große Mengen Salz. Schließlich überredete Lina einen Wirt, ihr seine gesamten Reserven zu überlassen. Einen Moment atmete sie auf, für die Perfektionistin sollte am ersten Tag alles stimmen. Sie kippte das Salz in den riesigen Kessel, der mit Holz und Torf beheizt wurde, und ließ ihre Kolleginnen umrühren.

Als Lina die Tür zum Keller um Punkt elf Uhr aufschloss, warteten davor Mitglieder des Vereinsvorstands und fünfzehn hungrige Personen – deutlich weniger als erhofft. Bis 13:30 Uhr musste es Lina gelingen, hundert Besucher anzulocken. Mindestens! So hatte es der Vorstand vorgegeben. Würde der Duft ihrer Speisen genügend Menschen anziehen?

Durch das vergitterte Fenster bemerkte sie, wie mit der Kutsche der Fabrikant Werner Siemens vorfuhr, der für die Küchenausrüstung großzügig gespendet hatte, so wie auch Prof. Virchow. Vom Urteil des renommierten Arztes würde maßgeblich der Weiterbestand der Volksküche sowie ihrer Tätigkeit als Leiterin abhängen. Und damit auch das Überleben ihrer Familie.

Aus den anfangs vorwiegend Schaulustigen wurden bald Esslustige. Gegen Ende der Öffnungszeit erreichte Lina die vorgegebene Zahl von hundert Besuchern. Und von Tag zu Tag wurden es mehr. Lina konnte aufatmen.

Berliner VolkskücheBerliner Volksküche.

Indessen berichtete Vorstandsvorsitzender Henning von einer Gefahr: Die Politische Polizei beobachte mit Argusaugen, was Lina vorhatte. Seit der Revolution von 1848 waren die Regierenden hellhörig, das Attentat im Mai 1866 auf Otto von Bismarck hatte zu einem Ausbau der Überwachungsmaßnahmen geführt. Andersdenkende bezeichnete Bismarck als ›Feinde‹, die Regierung fürchtete Ausschreitungen, war es doch erst vor wenigen Tagen, am 4. Juli, zu Arbeiteraufständen vor dem Roten Rathaus gekommen. Die Sorge, in Linas Volksküche könnten sich Aufwiegler bei Speis und Trank versammeln und Ungeheuerliches im Schilde führen, verunsicherte die Obrigkeit. Um eine vorzeitige Schließung zu verhindern, sah Lina nur eine Möglichkeit: ›Das Essen darf nur zu Hause verzehrt werden!‹ Deshalb mussten die Menschen die Speisen im Henkelmann abholen.

Neben Arbeitern und Erwerbslosen besuchten Linas Volksküche auch Lehrer, Familien und viele Frauen mit Kindern. Rasch gab es in der Presse Anfeindungen: Linas Volksküche befördere die Faulheit der Frauen, die nun nicht mehr für ihre Familien zu Hause ein Mittagessen zubereiteten! Lina konterte, ihre Küche besuchten vor allem Menschen, die weder Zeit noch Geld hätten, sich eine warme Mahlzeit zu kochen.

Wichtig war Lina, neue Erkenntnisse der Ernährungslehre umzusetzen. Viele Gerichte bestanden aus Kartoffeln, weißen Bohnen, Linsen, Kohl, Graupen und Buchweizengrütze. Als Süßspeisen bot sie Hefe­klößchen mit Pflaumenmus sowie Milchreis mit Zimt und Zucker an. Dafür nahm sie zwischen 15 und 25 Pfennig. Weil Linas Küche auch Menschen aufsuchten, die nicht einmal über die paar Pfennige verfügten, vergab sie eine begrenzte Anzahl an Freikarten.

Bald schon erhielt sie den Spitznamen ›Suppen­lina‹, später nannten die Menschen sie respektvoll ›Mutter der Volksküchen‹. Allerdings wurde sie auch als ›Eure erlauchte Gutheit‹ verspottet. Kritiker unterstellten ihr, Gewinn zu erzielen und diesen heimlich einzustecken. »Weshalb ist es notwendig«, mokierte sich der Antisemit Carl Pascha, »dass gerade eine Jüdin das Geschäft der Volksküche betreiben muss; warum können es nicht Deutsche tun?«

Vor allem das Gaststättengewerbe warf ihr unlauteren Wettbewerb vor. Auch einige Vorstände verfolgten die Eröffnung mit Argwohn, denn Lina hatte ihr Vorgehen nicht mit allen abgesprochen. Einige fühlten sich übergangen und traten geschlossen zurück, denn sie meinten, ›die Damen wären nicht genügend vorbereitet ans Werk gegangen‹.

Lina und ihre Helferinnen ließen sich nicht beirren. Bereits im Frühjahr 1867 lief die Küche so gut, dass sie den Vorschuss zurückzahlen konnte. Bald eröffnete Lina weitere Küchen in der Rosen­thaler und Linienstraße sowie in der Friedrich- und Kochstraße. Eine Filiale in der Landsberger Straße 65 wurde sogar von über tausend Personen pro Tag besucht.

Volksküche und KochschuleVolksküche und Kochschule auf der Allgemeinen Deutschen Ausstellung für Hygiene und Rettungswesen 1883 in Berlin.
Sonntags vor der Volksküche. Besuch der Kaiserin. Damen in der Kochschule. Gäste der Volksküche.

Sämtliche Volksküchen befanden sich in Kellern, Lina versorgte damit täglich über zehntausend Berlinerinnen und Berliner. Dafür organisierte sie die Abläufe generalstabsmäßig: Für jede Küche ernannte sie eine Vorstandsdame, sie ließ Wochenrapporte verfassen und gründete ein Zentralbüro, von dem aus zwei bezahlte Buch- und Kassenführer das finanzielle Gebaren überwachten. Auch den Tagesablauf plante sie akribisch: »Um 6 Uhr wird die Küche eröffnet. Pünktlich muss alsdann das ganze Personal versammelt sein. Die Wirtschafterin teilt sofort jedem seine Arbeit zu und überwacht, ob das von ihr ausgegebene Material wirklich zu den Speisen verwendet wird und in die Kessel kommt, als auch sorgt sie, dass die Speiseräume um 8 Uhr geordnet sind.« Lina bestand darauf, dass sogar Kartoffelschalen und Gemüseabfälle als Tierfutter verkauft und abgenagte Knochen zur Seifenherstellung veräußert wurden.

Genau genommen hätte sie jetzt dank des erwirtschafteten Gewinns ihre Ehrendamen durch bezahlte Kräfte ersetzen können. Doch sie entschied anders: Die Ehrendamen vermochten die Volksküche ›aufzuwerten‹ und ›undisziplinierte Elemente‹ zu mäßigen. Ebenso wichtig: Lina wollte bürgerlichen Frauen eine sinnvolle Beschäftigung anbieten. Dies empfand sie als emanzipatorischen Schritt, denn gemeinhin galt es als verpönt, wenn Frauen des Mittelstands außer Haus arbeiteten.

Während des Krieges waren die Küchen gut besucht und bald schon wurde Lina zu Vorträgen in viele Städte eingeladen. Nach ihrem Konzept entstanden Volksküchen in zwanzig anderen Metropolen, die Idee entwickelte sich zu einer der erfolgreichsten Unternehmungen bürgerlicher Wohltätigkeit.

• Gerhard J. Rekel

Entnommen aus:

Gerhhard Rekel: Lina Morgenstern

Gerhard J. Rekel

Lina Morgenstern

Die Geschichte einer Rebellin

264 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag
ISBN 978-3-218-01466-3

 Kremayr & Scheriau, Wien

Der Autor

Gerhard J. Rekel wurde 1965 in Graz geboren. Er absolvierte die Filmakademie Wien, für die Komödie Trauma erhielt er eine British Academy Nomination, eine Biennale-Einladung und den Japanischen Drehbuchpreis. Er verfasste mehrere Drehbücher für den Tatort und realisierte als Regisseur Wissenschaftsdokus für ARTE, ZDF und andere Sender. Rekel hat mehrere Romane veröffentlicht, u. a. Der Duft des Kaffees. Der zuletzt bei K&S erschienene  Monsieur Orient-Express erhielt den ITB-BookAward 2023 und wurde ins Englische, Französische und Niederländische übersetzt.

 www.gerhardrekel.com

 

Gerhard RekelFoto: Ingrid Götz

• Auf epilog.de am 9. Juni 2025 veröffentlicht

Reklame