FeuilletonGesellschaft & Soziales

Auf dem Bahnhof

Lina Morgenstern
und die Schrecken des Krieges

Sommer 1870

Rundschau für Kultur+Technik • 22.6.2025

Voraussichtliche Lesezeit rund 15 Minuten.
»Ich dachte immer, jeder Mensch sei gegen den Krieg, bis ich herausfand, dass es welche gibt, die dafür sind, besonders die, die nicht hingehen müssen.« Erich Maria Remarque,
deutscher Schriftsteller (1898 – 1970)

 

Nachdem der Uniformierte Lina mitten in der Nacht aus dem Familienurlaub geholt hatte, war sie rasch zur Tat geschritten. Lina hatte ihre freiwilligen Helferinnen aus der Volksküche angeleitet, die aus dem Krieg zurückkehrenden Soldaten zu versorgen. Zusammen mit den Frauen verwandelte Lina eine Baracke hinter dem Nieder­schle­sisch-Märki­schen Bahnhof in einen Speisesaal. Dünne Holzwände, ein hoch gelegenes Dach, große zurück­zuschiebende Tore. Darin Reihen mit Tischen und Stühlen für je fünfzig Personen. Fast zweitausend Menschen fanden in dem Schuppen Platz. Wie aber sollten Lina und ihre Kolleginnen die Soldaten verköstigen, wenn diese sich vom Bahnsteig kaum fortbewegen konnten?

Vor Schmerzen stöhnend fragten Verletzte nach einem Militärarzt, einem Heilgehilfen, einem Lazarett. Doch niemand der anwesenden Offiziere konnte eine medizinische Versorgung vermitteln. Es standen weder Kutschen für Kranke noch Lazarett­material bereit. Hatten die Regierenden nur mit dem Sieg gerechnet, nicht mit Verwundeten?

Lina konnte das Motiv für den Deutsch-Französischen Krieg nicht so recht nachvollziehen. Weil die Preußen in Spanien einen Thronfolger installieren wollten, beabsichtigte der französische Kaiser, den Preußen ›den Rhein wegzunehmen!‹ Kanzler Otto von Bismarck hätte vielleicht den Krieg noch verhindern können, doch im Namen des preußischen Königs Wilhelm I. organisierte er die Unterstützung von Bayern, Württemberg, Hessen-Darmstadt und Baden. Höchstwahrscheinlich befeuerte Bismarck den Konflikt, um die deutschen Länder schneller unter preußischer Führung zu vereinigen – was ihm mehr Macht bescheren würde.

Dafür hatte er 1867 die allgemeine Wehrpflicht eingeführt und er ließ im ganzen Land Männer rekrutieren. Tausende wurden in Ostpreußen, Posen und Pommern vom Feld geholt und über Berlin mit der Bahn nach Westen an die Front geschickt. Oft ohne militärische Ausbildung, mangelhaft ausgerüstet und schlecht betreut.

Schon Wochen zuvor hatten Lina und ihre Helferinnen die nach Frankreich durchziehenden Truppen versorgt. Jeder Soldat erhielt von Lina und ihren Ehrendamen ein Mittagessen, eine Verbandstasche, Fußlappen sowie eine Portion Wein oder Bier, manche sogar eine Zigarre. Lina nannte die Geschenke ›Liebesgaben‹.

Jetzt aber war die Situation schwieriger. Denn die Mehrzahl der Soldaten schleppte sich mit improvisierten Krücken und auf Kameraden gestützt vom Bahnsteig zum Schuppen, manche konnten sich gar nicht mehr bewegen. Frankfurter BahnhofDer Frankfurter Bahnhof der Niederschlesisch-Märkische Eisenbahn in Berlin um 1870. Lina hörte aus einigen Waggons Schreie. Sie kletterte auf den ersten. Als sie die Zwischentür zum Personenabteil öffnete, schlug ihr ein Gestank aus kaltem Rauch von billigem Tabak, Männerschweiß und Urin entgegen. Zwischen Holzbänken entdeckte Lina am Boden Schwerverwundete. Sie ächzten, röchelten oder waren ohne Bewusstsein. Vor ihr krümmte sich ein kaum Vierzehnjähriger; brünett, hager, ein intelligent aussehender Junge mit fein geschnittenem Gesicht. Er sah ihrem fast gleichaltrigen Sohn Michael ähnlich. Ihm fehlte das linke Bein, aus dem Stumpf sickerte Blut. Am rechten Oberarm hatte er einen provisorischen Verband, die Wunde eiterte, darüber kreisten Fliegen. Um sich nicht zu übergeben, musste Lina den Waggon verlassen. Draußen atmete sie durch und bat Bahnhofsvorsteher und diensthabenden Offizier um medizinische Hilfe. Beide beteuerten, sie hätten bereits einen Boten ans Kriegsministerium gesandt, aber noch keine Antwort erhalten.

Lina wusste: Selbst, wenn ein Beamter umgehend den Befehl geben würde, eine Sanitätseinheit zu entsenden – sofern überhaupt noch eine in Berlin vorhanden war –, konnte das dauern.

Die wenigen Stunden der verbliebenen Nacht tat Lina kein Auge zu. Am liebsten hätte sie jetzt das Erlebte mit ihrem Mann Theodor besprochen, das Für und Wider abgewogen. Denn sie wusste, Theodor kannte eine ähnliche Situation aus seiner Kindheit. Sein Vater war der einzige jüdische Arzt in der polnischen Kreisstadt Kalisz, die zum russischen Teilungsgebiet gehörte. Unter den jüdischen Einwohnern hatte Dr. Michael Morgenstern viel Leid gesehen, zahlreiche Juden konnten sich eine medizinische Behandlung nicht leisten und starben unter schrecklichen Umständen. Kurzerhand überzeugte er einen jüdischen Kaufmann, ihm Geld zur Gründung eines jüdischen Hospitals für Mittellose zu überlassen. Auf diese Weise betrieb Theodors Vater ein Krankenhaus mit zwanzig Betten, das später von der Regierung übernommen wurde. Vielleicht wurzelte Theodors Verständnis für Linas Wohltätigkeitsaktivitäten aus diesen Kindheitserfahrungen. Auf jeden Fall war sie sicher: Theodor würde sie ermutigen, nicht zuzusehen, wie Schwerverletzte sich selbst überlassen wurden und erbärmlich zugrunde gingen.

Noch am frühen Morgen entschied Lina, auf eigene Faust Hilfe zu organisieren. Sie eilte zum Bahnhof und gab in schnellen Sätzen ihren Damen Anweisungen, in der Baracke einen Teil der Bänke zur Seite zu schieben. Lina bat ihre Kolleginnen, Strohsäcke, Verbandsmaterial und frische Hemden zu besorgen. Dann suchte sie mit einem Wasserkrug, einem vollen Essnapf und einem Hemd den Vierzehnjährigen auf. Sie gab ihm zu trinken, fütterte ihn mit Eintopf und zog ihm das frische Hemd an, was er als ›größte Wohltat empfand‹. Zusammen mit Maria Gubitz, die auf eigene Kosten im Schuppen eine Feldapotheke einrichtete und von Medizin eine wenig Ahnung hatte, brachte Lina den Jungen in die Baracke, legte ihn auf eine Bank und versorgte notdürftig seine Wunden.

Die ganze Nacht versuchten die Frauen, private Unterstützung aufzutreiben und bürgerliche Damen, die Zeit hatten und gut versorgt waren, zur Mithilfe zu bewegen.

Lina MorgensternLina Morgenstern (1830 – 1909)
Hochmodern muten die Errungenschaften von Lina Morgenstern an: Als Jüdin in Preußen gründete sie die Volksküchen, initiierte über 30 Vereine zur Unterstützung von Frauen in Notlagen und half, den Fröbel-Kindergarten nach England zu exportieren.

Schließlich kamen Lina und Maria Gubitz mit neuen Helferinnen an, sie brachten Strohsäcke von Bauern, Kleidung von privaten Spendern und von Apothekern erbetteltes Verbandsmaterial.

Doch nur sechs bürgerliche Frauen fühlten sich imstande, die verstümmelten Soldaten zu behandeln und deren Wunden zu reinigen, denn natürlich verfügten sie nicht über medizinische Kenntnisse. So wurde unter Anleitung von Maria Gubitz, die trotz des Chaos eine ruhige, ermutigende Art hatte, unentwegt improvisiert.

Schon am nächsten Morgen erreichte ein zweiter Zug mit Verwundeten Berlin. Lina und ihre Mitstreiterinnen befeuerten rund um die Uhr die Kessel. Im Keller unter dem Schuppen standen riesige Bottiche. Im Licht von schwachen Gaslaternen putzten mehrere Frauen Karotten und schälten Kartoffeln, andere kochten Erbsen, Linsen, Bohnen, Reis in Bouillon sowie Graupensuppe. Weil vier Kupferkessel zu je dreihundert Litern in engen Kellerverschlägen standen und von früh bis spät das Gaslicht brannte, herrschte eine unerträgliche Hitze. Es war, als hätte jemand die gesamte Frischluft aus dem Keller gesaugt. Eine Frau bediente permanent die Brotmaschine, eine andere schnitt Speck und Wurst, dazu wurde Kaffee aus großen Kannen verteilt.

Lina ließ es sich nicht nehmen, von jedem Eintopf selbst zu kosten und das eine oder andere Gewürz hinzuzufügen. Für sie hatte die Zubereitung von Speisen eine alles überragende Wirkung: »Essen brachte den Menschen Energie, Gesundheit und Wohlbefinden. Im Gegensatz zu anderen Produkten, wie Kanonen, Gewehre und Schießpulver.«

Ununterbrochen erreichten Militärzüge Berlin. An manchen Tagen kamen innerhalb von 24 Stunden über 14 000 Soldaten an.

Energisch appellierte Lina an die Offiziere, ihre Vorgesetzten endlich davon zu überzeugen, Ärzte zum Bahnhof zu entsenden. Bald werde Hilfe eintreffen, beschwichtigten die Militärs. Nichts passierte. Unvermittelt brach Lina auf und nahm eine Kutsche: »Zum Kriegsministerium!«

Sie schritt auf den Eingang der Leipziger Straße 5 – 7 zu. Als sie dem Portier ihr Anliegen schilderte, schüttelte dieser nur den Kopf. Ohne Termin wollte er sie nicht einmal zum Sekretär vorlassen. Lina beschrieb die Situation am Bahnhof, erzählte von Verletzten, Verzweifelten und Verstümmelten. Vergeblich. Das Kriegsministerium.Das Kriegsministerium. Auch als sie sich am Portier vorbeischlich und bis zum Sekretär des Ministers vordrang, gewährte dieser ihr keine Audienz beim Verantwortlichen.

Den Frauen blieb nichts übrig, als die Verletzten eng aneinander in dem Bahnhofsschuppen auf den Boden zu legen und notdürftig zu behandeln. »Wir befanden uns in einer pestähnlichen Atmosphäre«, berichtete Lina. »Um einigermaßen eine lebens­mögliche Luft herzustellen, musste man fortwährend Zug durch entgegengesetzt geöffnete Türen erzeugen. In dem ganzen Raum war nicht ein abgeschlossenes Plätzchen, wo der traurige und oft die Scham verletzende Anblick der Verwundeten, deren Umkleidung notwendig war, vor den Augen des neugierigen Publikums hätte verborgen werden können.«

Oft, wenn die Schwerverwundeten nach einem Arzt riefen, beteuerten die Frauen, dass bald einer kommen würde – wider besseres Wissen. Hoffnung war bekanntlich das letzte Heilmittel. Lina und ihre Helferinnen mussten feststellen: Das Verbandsmaterial reichte nicht, es fehlte an Betten, Laken, Tragen, Schienen und Krücken, auch neue Spenden konnten sie so schnell nicht mehr auftreiben.

Der Bahnhofsvorstand berichtete, auch er hätte niemanden erreicht, der sich verantwortlich fühlte. Warum kümmerte sich der Staat nicht um jene Männer, die für ihn ihr Leben riskierten?

Trotzdem ließ sich Lina nicht entmutigen. Sie startete einen Aufruf in der Zeitung und bat um Freiwillige, die Binden aufrollten, Pflaster schnitten und Scharpie zupften – ein bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts gebräuchliches Verbandsmaterial, das aus Fasern bestand, die durch Zerzupfen von Baumwoll- und Leinenstoffen gewonnen wurden. Damit konnten gesäuberte Wunden verbunden und belüftet werden.

Als Lina nach dem Vierzehnjährigen sah, schien es ihm besser zu gehen, nur die entzündete Wunde am rechten Oberarm sah besorgniserregend aus. Lina strich sanft über die Wange des Jungen, seine Augen starrten sie voller Hoffnung an.

Weil erneut ein Zug mit Verletzten eintraf, arbeiteten Lina und ihre Ehrendamen vom Verein der Berliner Volksküchen bis zur Erschöpfung; sie schliefen abwechselnd und nur wenige Stunden auf Strohballen im Keller des Schuppens. Auch nach einer Woche tauchte kein Militärarzt auf, es gab keine Kutschen für Kranke, kein chirurgisches Besteck. Die Schwerverwundeten wurden in den Waggons sich selbst überlassen, nur die Leichen vom Militär abtransportiert.

Während Wilhelm I. am 18. August 1870 über die Königliche privilegierte Berlinische Zeitung die Siegesbotschaft durchgab, dass »unter seiner Führung in neunstündiger Schlacht die französische Armee vollständig geschlagen wurde«, berichteten Verwundete von der Schlacht bei Gravelotte. Dort hatten die Franzosen ein neues Geschütz eingesetzt: die Mitrailleuse. Sie gab bis zu 75 Schuss pro Minute ab und zahlreiche Soldaten klagten über eng beieinanderliegende Treffer. Die Preußen nannten sie die ›Höllenmaschine‹.

Indessen konnten Lina und ihre Helferinnen die Verletzten nur noch mit Nahrung und Wasser versorgen, denn zumeist wurde die Fahrt rasch fortgesetzt. Und zwar Richtung Osten. Die Regierenden wollten das Problem von der Hauptstadt fernhalten.

Manchmal gelang es Lina, die am schwersten Verletzten aus den Waggons zu holen und mit einer Kutsche in ein Krankenhaus transportieren zu lassen. Doch auch die Spitäler waren voll. Lina erfuhr, dass die Regierung vielen Verwundeten nicht einmal ihren Sold bezahlte und auch keine Mittel zur weiteren Heimreise organisiert hatte. Begründung: Verletzte können dem Staat nicht mehr dienen, also gäbe es keinen Grund, sie weiter zu entlohnen!

Lina veranstaltete eine Sammlung und konnte davon 1700 Verwundeten einen ›Zehrpfennig‹ mit auf den Weg geben.

In den letzten Tagen hatte sie es allerdings nicht geschafft, ihr Kleid zu wechseln. Zum Glück wusste sie, dass Theodor ihre Kinder in Bornim nahe Potsdam liebevoll betreute. Familienmitglieder nannten ihn das ›liebenswürdige Element‹. Einer, der Verständnis für andere hatte, sich einfühlen und schwer Nein sagen konnte. In vielen Aspekten des Lebens stimmten Lina und Theodor bewusst oder unbewusst überein. Beide hatten einen Blick für soziale Ungerechtigkeiten und beide hatten Freude an unternehmerischen Tätigkeiten.

Am Abend tauchte Theodor mit den Kindern Clara, Michael, Olga, Martha und Alfred auf und brachte Lina frische Kleidung. Als er ihre Ablage bemerkte, auf der sich Rechnungen stapelten, mahnte er, die Quittungen von Einkäufen für Lebensmittel sowie anderem Material zu sortieren. Er versuchte, in ihr Chaos Ordnung zu bringen, doch viele Abrechnungen waren unvollständig oder fehlten ganz. Es gehört zum Wesen jeder großen Leidenschaft, dass sie nicht zählt und spart, nicht zögert und rechnet. Sondern ausbricht. Aus sich heraus.

Trotzdem registrierte Lina jetzt Theodors sorgenvollen Blick. Wenn der vier Jahre ältere Mann mit seinen blauen Augen und der niedlichen Nase sie liebevoll anlächelte, konnte sie nicht anders, als ihm zu versprechen, sich zu bemühen.

Plötzlich rief Maria Gubitz nach Lina. Schrill und energisch. Dem Vierzehnjährigen ging es schlecht. Seine Wunde am rechten Oberarm hatte sich stärker entzündet, er klagte über Schmerzen und hohes Fieber, sein Atem war flach. Lina wollte ihn sofort in ein Hospital bringen, doch Maria Gubitz meinte, der Junge sei nicht transportfähig. Besser wäre es, einen Arzt zu holen. Verzweifelt rief Lina nach einer Droschke.

»Zur Charité.« Mehrmals trieb Lina den Kutscher zur Eile an, als hinge von der Fahrt ihr Leben ab. Im größten Krankenhaus Berlins suchte sie die Chirurgie auf. Die Berliner CharitéDie Berliner Charité Lina wich Patienten aus, die auf den Fluren lagen; sie rannte an einer Schwester mit Opium-Fläschchen und Pflegern mit Tabletts voller Skalpellen vorbei, sprach einen Arzt nach dem anderen an und bat um Hilfe. Die Mediziner wimmelten sie ab. Manche, weil sie tatsächlich beschäftigt waren. Andere, weil sie Lina nicht glauben wollten, denn das Kriegsministerium hatte doch ein Sanitätskorps gebildet, mit Militärärzten, preußisch organisiert, warum sollten die Verwundeten dann nicht am Bahnhof versorgt werden? Andere wiederum hielten die kleine, rundliche Frau in ihrem schmutzigen Kleid, mit Augenringen und wirrem Haar, die so schnell redete, dass man ihr manchmal kaum folgen konnte, schlichtweg für eine Verrückte – und ließen sie stehen.

Lina gab nicht auf. Bis sie in einem Pausenraum zwei angehende Mediziner traf. Sie appellierte an die jungen Männer, sich wenigstens die Güterschuppen mit Verwundeten anzusehen, der Ausflug würde nicht mehr als eine Stunde dauern. Unter der Bedingung, dass Lina auch den Obolus für die Kutsche zurück entrichte, stimmten Dr. Julius Boas und Dr. Friedrich Plonski zu, beide waren noch keine 25 Jahre alt. Auf der Fahrt erzählte Lina, wie sie und ihre Damen »in den letzten Wochen ohne ärztlichen Beistand bereits über 4000 Verwundete versorgt hatten«.

Die Kutsche rollte an neu erbauten militärischen Baracken vorbei, für Soldatenunterkünfte gab es offensichtlich Geld. Der aufgewirbelte Staub von der holprigen Straße knirschte zwischen Linas Zähnen, ihre Augen tränten. Nervös führte sie die Ärzte zu dem Vierzehnjährigen. Der Junge aber atmete nicht mehr, die Mediziner konnten nur noch seinen Tod feststellen. Nach Dr. Plonskis Überzeugung hätte der Arm gleich nach der Ankunft amputiert werden müssen, um eine Blutvergiftung zu verhindern. Lina brach es fast das Herz. Nicht nur weil der Junge sie an ihren Sohn Michael erinnerte, machte sich Lina Vorwürfe. Doch über die Jahre hatte sie eine Methode entwickelt, mit Rückschlägen umzugehen: Sie versuchte, das Negative umzukehren, eine Stärke daraus zu ziehen – und zeigte nun den Ärzten, wie viele Menschen sie durch ihr Eingreifen retten könnten.

Mit kurzen, schnellen Erläuterungen führte sie die Mediziner durch den Schuppen. Die beiden Männer erkannten die Not und erklärten sich tatsächlich bereit, Lina zu unterstützen. Sofort bemängelten die Ärzte das Fehlen von Krankenbetten, chirurgischem Besteck, Chloroform und Hilfsmitteln wie Schienen, Krücken und Rollstühlen. Trotzdem wollten sie ›ausnahmsweise‹ einige Stunden nach ihren Diensten an der Charité helfen.

• Gerhard J. Rekel

Entnommen aus:

Gerhhard Rekel: Lina Morgenstern

Gerhard J. Rekel

Lina Morgenstern

Die Geschichte einer Rebellin

264 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag
ISBN 978-3-218-01466-3

 Kremayr & Scheriau, Wien

Der Autor

Gerhard J. Rekel wurde 1965 in Graz geboren. Er absolvierte die Filmakademie Wien, für die Komödie Trauma erhielt er eine British Academy Nomination, eine Biennale-Einladung und den Japanischen Drehbuchpreis. Er verfasste mehrere Drehbücher für den Tatort und realisierte als Regisseur Wissenschaftsdokus für ARTE, ZDF und andere Sender. Rekel hat mehrere Romane veröffentlicht, u. a. Der Duft des Kaffees. Der zuletzt bei K&S erschienene  Monsieur Orient-Express erhielt den ITB-BookAward 2023 und wurde ins Englische, Französische und Niederländische übersetzt.

 www.gerhardrekel.com

 

Gerhard RekelFoto: Ingrid Götz

• Auf epilog.de am 22. Juni 2025 veröffentlicht

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