FeuilletonGesellschaft & Soziales

Eine Volksküche in London

Die Gartenlaube • 1870

Unter die allerschmerzlichsten der Eindrücke, die der Fremde von einem Aufenthalt aus dem an Gegensätzen so reichen London mit nach Hause nimmt, zähle ich die, welche die sogenannten Sonnabendnachtmärkte auf mich machten. Es sind dies Märkte, die am späten Abend lediglich für die Arbeiter abgehalten werden, welche nach empfangenem Wochenlohn hier ihre armseligen Lebensbedürfnisse für die nächsten paar Tage, das heißt so weit ihre wenigen Schillinge reichen, zu decken suchen. Da war es mir denn immer die traurigste Szene, wenn ich sah, wie die ärmsten der hier verkehrenden armen Weiber um dürftige Stücke schlechten, halbverfaulten oder sonst verdorbenen Fleisches feilschten, während sie mit sehnsüchtigen Augen, mit Blicken, die tief ins Herz hinein schnitten, die besseren, frischeren und reichlicheren Stücke betrachteten, welche für Leute mit volleren Börsen zum Kauf aus lagen. Jetzt ist Gott sei Dank diesen Jammerszenen einigermaßen ein Ende gemacht, seitdem von Australien aus Massen eingesalzenen und präservieren, aber völlig nahr- und schmackhaften Fleisches nach London kommen, das auch für den ärmsten Arbeiter kein unerreichbarer Leckerbissen ist. Hauptsächlich sind es zwei große Firmen, welche London mit diesen überseeischen Ochsen- und Schafziemern versorgen; die eine ist eine große Aktiengesellschaft, die Australian Meat Company, die andere ein Privatunternehmen. Die letztere, die sich lediglich mit Schöpsenfleisch [Hammel bzw. Schaf] befasst, hat nun den glücklichen Gedanken gehabt, mitten in einem von Armen bewohnten Distrikt am Ostende der Riesenstadt, in Norton Folgate, hinter einem umfänglichen Verkaufslokal zugleich eine Küche zu etablieren, wo die Kunden das in den Vorderräumen erhandelte Fleisch für eine geringfügige Extravergütung sich je nach ihren Wünschen zubereiten lassen und verspeisen können.

Die Umgebungen des Lokals sind höchst trübseligen Anblicks, aber das Etablissement gleicht einer Oase in der Wüste, so einladend und schmuck stellt es sich dar. Und man muss sehen, wie das umwohnende Publikum herbeiströmt und die an den Schaufenstern auf das Appetitlichste ausgestellten Delikatessen bewundert: wie es die Kupferpence in seinen Taschen mustert und, wenn das Resultat der Revision günstig, die Schwelle des kulinarischen Paradieses überschreitet, von den minder Glücklichen, welche sich nur an dem Anblick von außen laben können, beneidet und als Notabilitäten bestaunt! Das Gedränge um den Ladentisch, der eine passende Auswahl aller der gebotenen Genüsse in dekorativer Anordnung enthält, ist immer lebensgefährlich; hier sucht sich das Publikum aus, was seinen Gelüsten und dem Stande seiner Kasse entspricht, nimmt sich dann die auf einem Seitentisch aufgestapelten Teller und Schüsseln und verfügt sich damit in das eigentliche Speisegemach, einen kolossalen Saal, den lange Reihen von Tafeln und Bänken von einer Ecke bis zur andern ausfüllen. Die Flutzeit des Etablissements währt von zwölf bis zwei Uhr nachmittags; während derselben pflegt jedes Räumchen des gewaltigen Lokals besetzt zu sein, und zwar sieht man darin neben den Vertretern der ärmsten Klasse der Londoner Bevölkerung, neben dem offenbaren Bettler in zerlumpter Kleidung (der eigentliche Strolch und Dieb vermeidet dergleichen auf Anstand und Ordnung haltende Lokalitäten) Leute von ganz respektablem Äußeren, meist Schreiber und Commis, welche, bei einem geringfügigen Jahresgehalt von fünfzig bis hundert Pfund Sterling, die Gelegenheit, um billigen Preis ein sättigendes Mittagsmahl zu erhalten, mit Freuden ergreifen. Der gewöhnliche Betrag eines jeden der verabreichten Gerichte ist ein Penny; wer sich den Luxus von zwei Pence gestatten kann, wofür er zu seiner Schüssel noch gedämpfte Kartoffeln erhält, der gilt nach den Begriffen von Norton Folgate schon für einen Lucullus.

Wie schon erwähnt, bietet das Etablissement ausschließlich Schöpsenfleisch feil, bereitet dies jedoch in einer Menge verschiedener Gestalten zu. Das Fleisch ist vor dem Transport leicht eingepökelt worden und hat durch die lange Reise nichts von seiner Frische und seinem Wohlgeschmack eingebüßt. Für etwas bemitteltere Kunden importiert man auch präserviertes Fleisch in hermetisch verschlossenen Zinnbüchsen; dies wird vorher bereits gekocht und kommt das Pfund ungefähr auf sechs Pence oder fünf Silbergroschen zu stehen. Im Durchschnitt zählt das Lokal, außer der großen Menge von Kunden, die sich das erkaufte Fleisch mit nach Hause nehmen, Tag aus Tag ein mehr als tausend Tischgäste – während der verflossenen Weihnachtszeit stieg die Ziffer auf nahezu das Doppelte – so dass die Firma, obwohl bei weitem die meisten dieser Gäste nur je einen Penny anlegen können, dennoch prosperiert. So gereicht, ein treffendes Beispiel von der nationalökonomischen Bedeutung des Welthandels, der Überfluss eines viele Tausende von Meilen entfernten Erdteils der europäischen Armut zum Segen.

Entnommen aus dem Buch:
Die ›Zeitreisen‹ knüpfen an die Tradition der Jahrbücher und Zeitschriften ›zur Bildung und Erbauung‹ aus dem 19. Jahrhundert an. Eine bunte Auswahl von Originalartikeln begleitet den authentischen und oft überraschend aktuellen Ausflug in die Geschichte.Kultur- und Technikgeschichte aus erster Hand, behutsam redigiert, in aktueller Rechtschreibung und reichhaltig illustriert.
  PDF-Leseprobe € 14,90 | 148 Seiten | ISBN: 978-3-7562-0128-0

• Auf epilog.de am 16. Februar 2022 veröffentlicht

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