Handel & Industrie

Die Telegrafenkabel-Fabrik
von Siemens in Woolwich

Illustrirte Zeitung • 8.12.1866

Telegrafenkabel-FabrikDie Telegrafenkabel-Fabrik von Siemens in Woolwich.

In Woolwich bei London blickt auf den Themsestrom ein stattliches Gebäude, in dessen Räumen eine geräuschlose, emsige, für alle Weltteile fruchtbare Tätigkeit herrscht. In jedem der sauber blinkenden, stillen Säle starren den Laien rätselhafte, metallene Wesen an; er bedarf keiner sehr lebhaften Einbildungskraft, um sich unter verkörperten Dämonen zu glauben. Maschinen können es nicht sein, denn sie haben Arme und Augen und Ohren und andere fantastische Gliedmaßen. Zum Glück findet er in der Gesellschaft dieser unverständlichen Geschöpfe auch Kreaturen, und zwar sehr verständige, aus Fleisch und Bein. Ein oder der andere Herr erklärt ihm die mathematischen Tugenden und die physikalischen Wetterlaunen der großen und kleinen Ungetüme mit leiser Stimme, um seine Kollegen nicht zu stören; denn der Mann am Schraubstock zwar ist nicht leicht aus der Fassung gebracht, aber tiefere Andacht heischt der Dienst des anderen, der dort festgewurzelt vor der Wand steht und die Windungen einer grauen, von der Decke niederhuschenden Schlange zählt, oder, über eine wunderliche Trommel gebeugt, die Zuckungen einer kleinen, haardünnen Nadel beobachtet. Einmal das Auge weggewandt oder gar ein Wort gewechselt – und der Zauber ist gebrochen.

Der Geist, den diese mannigfach gestalteten Maschinen beherbergen, gefesselt über Länder und Meere senden, zum reden zwingen und wieder einfangen – der elektrische Funke nämlich – ist unter den dienstbaren Geistern, welche die Naturwissenschaft heraufbeschworen und dem Menschen zur Verfügung gestellt hat, vielleicht der größte, jedenfalls der schnellste. Er beschleunigt und erleichtert das Tagewerk der Weltgeschichte. Ohne den Telegrafen wäre das Jahrhundert vielleicht heute noch nicht einmal im Schwabenalter.

Im Land, wo die Göttin der Erfindung geboren ist, wo namentlich die praktische Anwendung den Entdeckungen der Wissenschaft auf dem Fuß folgt, hat ein Deutscher eine der großartigsten Telegrafenkabel-Fabriken der Welt angelegt. Nicht bloß unterseeische und Landkabel, nicht bloß Telegrafierapparate aller Art gehen aus der Fabrik von Siemens in Woolwich hervor, sondern die Anstalt ist zugleich ein wissenschaftliches Laboratorium, eine Stätte fortwährender Experimente und sinnreicher Erfindungen. Die Kabel, die aus diesem Hause auf Themsedampfer verladen und in alle Weltgegenden verschifft worden sind, verbinden St. Petersburg mit Kronstadt, Frankreich mit Korsika und Algier; sie laufen für den Pascha von Ägypten über das Nilbett hin; sie arbeiten in Indien wie in Brasilien und am La Plata, am Cap und in der Türkei wie in Spanien. Sie zählen zusammen 6000 Seemeilen Länge, bilden also ein gutes Stück des Gürtels, den Puck um die Erde zu legen verhieß. Und dieses Gürtelstück ist in dem kurzen Zeitraum seit der Gründung der Fabrik, nämlich seit 1859, geflochten worden; ein Beweis von dem hohen Ruf, dessen sich der Name Siemens in aller Herren Länder erfreut. Viele Vervollkommnungen der telegrafischen Werkzeuge verdankt man dem deutschen Haus in Woolwich. Die englische Regierung hat auf ihren Landlinien in Indien seine sinnreichen ›Tubular Iron Telegraph Posts‹ aufgepflanzt, und die Londoner Feuerwehr bedient sich seines neuen magnetisch-elektrischen Apparats. Unentbehrlich hat man für jene südlichen Meere, auf deren Boden der tückische Xylophagos, das holzfressende Infusionstierchen, haust, feine biegsamen, kupfernen Kabelpanzer gefunden. Erwähnenswert unter anderen Erzeugnissen von Siemens ist auch der patentierte, mit verzückter, gusseiserner Hülse versehene Porzellan-Isolator.

Unter den 300 Arbeitern, welche die Fabrik beschäftigt, sind die Direktoren und Werkführer fast ohne Ausnahme Deutsche, und dass der Gründer dieser Fabrik in den wissenschaftlichen Kreisen Englands einen klangvollen Namen hat, dürfen wir als bekannt voraussetzen.

• Auf epilog.de am 28. Februar 2024 veröffentlicht

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