Verkehr – Eisenbahn
Europas größte Lokomotive
Die Gartenlaube • 1891
Es sind nun gerade 40 Jahre her, seit die erste Alpeneisenbahn über den Semmering vollendet wurde. Die Großartigkeit dieser Gebirgsbahnanlage, die ungewöhnliche Linienführung mittels starker Rampen und kleiner Bogen, vor allem aber die Anforderungen, welche damit an die Leistung der Lokomotive gestellt wurden, erweckten die allgemeine Bewunderung dieser ersten Alpenbahn.
Nachdem durch die Überschienung des Semmering-Gebirges zwischen Gloggnitz und Mürzzuschlag die Möglichkeit eines geregelten Bahnbetriebes unter schwierigen technischen und klimatischen Verhältnissen nachgewiesen war, erfolgte bald die Ausführung anderer großer Gebirgsbahnen, die an Kühnheit der Anlage die Semmeringbahn zum Teil noch übertrafen.
Zwischen Innsbruck und Bozen wurde der Brennerpass überschient, und zwischen Modane und Susa der Mont Cenis, oder richtiger der Col de Frejus durchbohrt. In Italien wurden die kühnen Gebirgsbahnen über die Apenninen angelegt und im schweizerischen Jura der Hauenstein bezwungen.
Das großartigste Denkmal der zeitgenössischen Eisenbahn-Ingenieurkunst ist aber die Deutschland und Italien durch die Zentralschweiz verbindende Gotthardbahn, während außerhalb Europas die amerikanischen Anden- und Cordillerenbahnen zu erwähnen sind, in Asien die Bahn über den Suram in Kaukasien, auf der Linie Poti-Tiflis und diejenige durch die Schluchten des Bolanpasses in Beludschistan, welche vom Indus nach der Hochebene von Pishin führt.
Der anstandslose Betrieb der genannten Bahnen wurde aber nur dadurch ermöglicht, dass schwerere Lokomotiven als gewöhnlich, d. h. Maschinen von größerer Adhäsionskraft und Verdampfungsfähigkeit, zur Anwendung gelangten.
Die gegenwärtige Normal-Lokomotive der großen europäischen Gebirgsbahnen hat in der Regel vier gekuppelte Achsen und wiegt unter Dampf 50 bis 56 Tonnen, während die Vorräte von Speisewasser und Kohlen auf einem Tender von 25 bis 30 Tonnen Vollgewicht untergebracht sind. Eine derartige Lokomotive vermag auf einer Steigung von 1:40 mit einer Bahnkrümmung von 180 Metern Halbmesser eine Gesamtlast von etwa 150 Tonnen, ausschließlich Maschine und Tender, zu bewältigen.
Auf Bergbahnen mit starkem Verkehr sind aber in der Regel schwerere Züge zu befördern, abgesehen davon, dass die Witterungsverhältnisse sehr oft größere Maschinenkräfte erheischen, und man ist alsdann zur Verwendung von ›Vorspann-‹ oder ›Schub-Lokomotiven‹ gezwungen; oft genügen selbst die zwei Maschinen nicht mehr und es muss eine Dritte zu Hilfe genommen werden. Es ist ganz klar, dass ein solcher Notbetrieb, wie er besonders im Winter vorkommt, weder sparsam noch sicher ist, und tatsächlich ist ein derartiger Zug in langen Kehrtunneln, wo die Maschinenführer einander nicht sehen können, beständig in Gefahr. Auch auf den Bahnen des Flachlandes sind viele und große Unfälle auf die Verwendung von Vorspann-Lokomotiven zurückzuführen. Es handelte sich somit darum, durch eine außerordentlich leistungsfähige Maschine den Vorspanndienst möglichst einzuschränken, wenn nicht ganz zu umgehen, und diese Aufgabe wird gelöst durch den Bau von sogenannten Doppel-Lokomotiven, bei welchen die Vorräte von Speisewasser und Kohlen auf die Maschine selbst verlegt sind.
Eine solche Doppel-Lokomotive wurde nun im Januar 1891 im Eisenwerk Hirschau von J. A. Maffei in München für die Gotthardbahn vollendet, und da diese Riesenmaschine im dienstfähigen Zustande 85 Tonnen wiegt, so ist dieselbe weitaus die größte Lokomotive, welche bis dahin in Europa gebaut und in Betrieb gesetzt worden ist.
Die Grundzüge der neuen Lokomotive sind auch dem Laien verständlich, wenn Folgendes beachtet wird. Die Größe einer Lokomotive wird hinsichtlich Breite und Höhe beschränkt durch das sogenannte ›Normalprofil des lichten Raumes‹ oder das ›Ladeprofil‹, und zwar so, dass auf den Bahnen des Vereins deutscher Eisenbahnverwaltungen keine Maschine über 3,15 m breit und über 4,57 m hoch, am Schornstein gemessen, sein darf. Eine erhebliche Vergrößerung der Lokomotive kann somit nur in der Längsrichtung erfolgen und sie bedingt gleichzeitig eine entsprechende Vermehrung der Achsen, deren Anzahl außerdem durch die zulässigen Schienendrucke – welche in Deutschland 14 Tonnen auf die Achse nicht übersteigen dürfen – bestimmt werden muss. Ferner erfordert das freie Befahren der Bahnkrümmungen eine gewisse Biegsamkeit des verlängerten Laufwerkes, was durch Drehgestelle erreicht wird. Denkt man sich nun eine sechsachsige Maschine, bei welcher die vorderen drei Achsen in einem Drehgestell liegen und mit eigenem Antrieb versehen sind, so ergibt sich die allgemeine Anordnung der neuen Riesen-Lokomotive der Gotthardbahn, wie sie durch die oben stehende Abbildung veranschaulicht ist.
Die Vorratsräume der Maschine fassen 8 Tonnen Speisewasser und 4 Tonnen Kohlen, während ihre Länge, von Puffer zu Puffer gemessen, 14 m beträgt.
Ähnlich konstruierte Maschinen nahmen bereits vor 40 Jahren am Semmering-Wettbewerb, welcher damals von der österreichischen Regierung veranstaltet wurde, teil; später wurde das System wieder aufgenommen und verbessert durch den englischen Lokomotiveningenieur Fairlie in London und den elsässer Ingenieur Meyer in Mülhausen, während die neue Lokomotive der Gotthardbahn nach den Patenten des in Paris lebenden Ingenieurs Anatole Mallet aus Genf ausgeführt ist. Sämtliche Konstruktionspläne wurden indes ganz selbstständig in Maffeis Eisenwerk Hirschau angefertigt, weshalb die Maschine immerhin auch mit einigem Rechte als ein Erzeugnis der deutschen Lokomotivenindustrie angesehen werden darf.
Das neue Lokomotivsystem ist nicht nur für den verstärkten Dampfbetrieb von Gebirgsbahnen von Bedeutung, sondern überhaupt für alle Eisenbahnen, auf denen ein gesteigerter Verkehr durch kräftigere Lokomotiven, und zwar ohne größere Inanspruchnahme des Oberbaues, bewältigt werden soll. Das Bedürfnis nach größeren Zugkräften auf unseren Bahnen wird immer dringender: Die Güterzüge werden immer schwerer, während der Personenverkehr infolge der um sich greifenden Tarifermäßigungen im steten Wachsen begriffen ist. Die Bahnverwaltungen sind so gezwungen, die Leistungsfähigkeit ihrer Anlagen zu erhöhen, und dahin gehört auch eine entsprechende Mehrleistung, also eine Vergrößerung der Lokomotiven.
• Adolf Brunner