U-Bahn in Berlin

Die Katastrophe auf der Berliner Hochbahn

Berliner Morgenpost • 27.9.1908

Voraussichtliche Lesezeit rund 14 Minuten.

Zusammenstoß auf dem Gleisdreieck.
– Ein Wagen in die Tiefe gestürzt. –
16 Tote. – 17 Verwundete.

»Ein Hochbahnwagen ist abgestürzt. Viele Tote und Verwundete sind unter den Trümmern des Wagens begraben!« – Diese Schreckenskunde durcheilte gestern um die zweite Nachmittagsstunde die Stadt und sie sagte die volle Wahrheit, eine entsetzliche, tief erschütternde Wahrheit: Eine Katastrophe hatte sich ereignet, so voll blutiger Schrecknisse, wie sie bisher im Berliner Verkehrsleben unerhört war.

Das Gleisdreieck an der Hochbahn, jenes vielgerühmte Meisterstück der Ingenieurbaukunst, war der Schauplatz der fürchterlichen Katastrophe. Die Darstellung, welche die Gesellschaft der Hoch- und Untergrundbahn von dem schreckensvollen Vorgang gibt, geht dahin, dass ein Zug ab Leipziger Platz 1.42 Uhr das auf Halt stehende Ausfahrtsignal überfahren hat. Zu dieser Zeit fuhr ein direkter Zug von Bülowstraße 1.39 Uhr nach der Möckernbrücke. Es erfolgte ein Zusammenstoß und der erste Wagen des Zuges Bülowstraße – Möckernbrücke fiel hinunter und drehte sich in der Luft herum. Die Schuld trifft den Fahrer des Zuges ab Leipziger Platz.

Das Personal und die Insassen des Zuges Leipziger Platz sind unverletzt. Der schuldige Fahrer heißt Schreiber und ist ein älterer Beamter der Gesellschaft. Der Zugbegleiter Klemm von dem verunglückten Zuge ist tot, der Zugführer dieses Zuges, Fink, ist schwer verletzt. In tiefer Bewegung steht die Bevölkerung Berlins und mit ihr die gesamte Bevölkerung des Reiches vor dem furchtbaren Geschick, das hier über so viele hereingebrochen ist.

Der Zusammenstoß auf dem Gleisdreieck

Die Katastrophe ereignete sich gestern genau um ¾ 2 Uhr nachmittags auf dem Gleisdreieck, unmittelbar beim Maschinenhaus der Kühlanlagen. Um 1 Uhr 39 Minuten war der aus der Richtung Charlottenburg kommende Zug von der Bülowstraße abgefahren und wollte, ohne den Leipziger Platz zu berühren, direkt nach der Station Möckernstraße weiterfahren. Fahrer dieses Zuges war der 31-jährige Motorführer Otto Klemm, der Zugbegleiter der 30-jährige Ludwig Fink. Um 1 Uhr 42 Min. war der andere Zug vom Leipziger Platz abgelassen, ebenfalls in der Richtung nach Station Möckernstraße. Dieser Zug wurde von dem 38 Jahre alten Motorführer Karl Schreiber geführt, der schon seit der Eröffnung der Hochbahn im Dienst dieser Gesellschaft steht. Zugbegleiter war der 40 Jahre alte Gustav Mende. Genau um 1 Uhr 45 Minuten trafen die beiden Züge auf dem Gleisdreieck zusammen.

Gleisdreieck

Der Leipziger Platz-Zug überfuhr das Haltesignal und kam auf das nach der Möckernstraße führende Gleis. Der Bülowstraßen-Zug, der freie Fahrt gehabt und deshalb mit der gewohnten Geschwindigkeit gefahren war, kam auf das gleiche Gleis, und da ereignete sich die furchtbare Katastrophe. Ahnungslos wurden die meisten Fahrgäste in den beiden Zügen von dem Unglück überrascht. Einige hatten ja wohl den anderen Zug in dichter Nähe gesehen, aber in den wenigen Sekunden, da die beiden Züge parallel miteinander demselben Gleis zustrebten, nicht im geringsten an eine Gefahr gedacht. Die Fahrgäste eines jeden Wagens dachten, der andere werde schon rechtzeitig halten, um den ihren vorüberzulassen, wie man es auf dem Gleisdreieck oft zu beobachten Gelegenheit hatte. Plötzlich war das ungeheure Unglück da. Die beiden Züge stießen unmittelbar vor dem Maschinenhaus der Kühlanlagen miteinander zusammen. Dem Zusammenstoß folgte ein furchtbares Krachen und Klirren, die Fensterscheiben zerbrachen, die Metallstangen wurden verbogen und die Fahrgäste der beiden Züge infolge der Erschütterung der Wagen teils gegeneinander, teils gegen die Wagenwände geschleudert. Und im nächsten Augenblick ereignete sich das Furchtbare: ein Wagen des Bülowstraßen-Zuges stürzte in die Tiefe.

Es war der erste Wagen des Bülowstraßen-Zuges – ein Wagen dritter Klasse. – Er war bei dem Zusammenstoß vom Gleis weggeschoben worden, kippte um, durchbrach das eiserne Geländer und fiel herunter, dabei sich gleichzeitig von der Kuppelung losreißend. Man hörte entsetzliches Schreien und dann sah man, wie sich der Wagen in der Luft überschlug, so dass sich das Dach nach unten und die Räder mit den Motoren nach oben kehrten. Mit furchtbarer Geschwindigkeit sauste der Wagen in die Tiefe und schlug mit einem donnernden Krachen auf den asphaltierten Hof der Kühlanlagen auf. Der Wagen ging dabei völlig in Trümmer. Durch die Wucht des Anpralls wurde das Dach, das zuerst aufgeschlagen war, förmlich in das Wageninnere hineingetrieben, während das schwere Gestell mit den Motoren den Boden durchschlug. So wurden die Fahrgäste zwischen Gestell und Dach eingeklemmt und meist erdrückt.

Bergung der Verunglückten

Aus den Kühlanlagen strömten auf das furchtbare Getöse hin die Arbeiter in den Hof und sahen das entsetzliche Schauspiel. Aus dem Trümmerhaufen hörte man ergreifendes Jammern und Stöhnen. Man sah aber nur die Beine der Verunglückten, die Oberkörper lagen fast durchweg unter den Trümmern. Die Arbeiter versuchten, die Verunglückten aus ihrer furchtbaren Situation zu befreien, vermochten das aber nicht, da ihre Kräfte nicht ausreichten, um die Wagentrümmer zu heben. Erst als die Feuerwehr aus der Schöneberger Straße erschien, konnte die Bergungsaktion beginnen. Mit Spitzhacke und Hebeln wurde hastig gearbeitet und der Wagen förmlich in zwei Hälften gerissen. Die obere Hälfte mit dem Gestell wurde dann mittels einer Winde hochgehoben, und nun konnte man damit beginnen, unter den Trümmern die Körper der Verunglückten hervorzuholen. Diese Arbeit dauerte nahezu eine Stunde, denn zu einzelnen Verunglückten zu gelangen, war ein schwieriges Werk. Mit solcher Hast wurde die Bergungsaktion durchgeführt, dass man sich nicht einmal Zeit nahm, festzustellen, wer von den Geborgenen tot, wer schwer verletzt sei. Wer hervorgezogen wurde, den legte man auf eine der bereitgestellten Tragbahren und schaffte ihn in einem Eiswagen der Kühlanlagen oder einem Krankenwagen entweder nach dem Krankenhaus am Urban oder nach dem Krankenhaus in der Gitschiner Straße. Daher kam es, dass man an der Unfallstelle selbst zwei Stunden nach der Katastrophe die Zahl der Toten und Schwerverletzten nicht kannte. Die Zahl der Leichtverletzten festzustellen war überhaupt nicht möglich, denn diese eilten von der Unfallstelle gleich hinweg.

Zwischen Himmel und Erde

Trümmerstätte am GleisdreieckDie Katastrophe auf der Hochbahn: Die Trümmerstätte am Gleisdreieck.

Parallel mit der Rettungsaktion ging die Räumungsaktien oben auf dem Gleisdreieck. Dort oben in zwanzig Meter Höhe war das Unglück gegenüber dem da unten völlig unbedeutend. Der zweite Wagen des verunglückten Bülowstraßen-Zuges war, nachdem sich der erste Wagen von der Kuppelung losgerissen und in die Tiefe gestürzt war, auf dem Gleis stehen geblieben. Es war der Wagen zweiter Klasse. Das Vorderteil des Wagens war zwar etwas mitgerissen worden. Er zerstörte das eiserne Geländer, zertrümmerte einen Teil der Mauer und schob sich einen Meter weit über das Gleis hinaus. Von unten sah es aus, als ob der Wagen jeden Augenblick dem ersten folgen und ebenfalls in den Hof herunterstürzen würde. Das Schwergewicht des Wagens blieb aber auf dem Gleis und so waren die Fahrgäste zweiter Klasse davor verschont geblieben, das Schicksal der unglücklichen Fahrgäste des ersten Wagens zu teilen. Nur die Scheiben wurden zertrümmert. Der folgende Wagen dritter Kasse blieb ganz auf dem Gleis und wurde durch die Katastrophe nur wenig berührt. Das Gleiche war beim ganzen Leipziger Platz-Zug der Fall. In allen Wagen wurden die Fensterscheiben zertrümmert, einzelne Metallteile verbogen, aber ein ernstliches Unglück geschah nicht. Die Fahrgäste kamen zum größten Teil mit dem bloßen Schrecken davon und nur wenige Passagiere hatten leichte Kontusionen, Hautabschürfungen und dgl. davongetragen, als sie beim Zusammenstoß gegeneinander oder gegen die Wände des Wagens geschleudert wurden. Als der erste Schrecken vorüber war, da empfanden diese Fahrgäste meist nur das furchtbare Unglück, das die Passagiere des herabgestürzten Wagens getroffen hat.

Die Strecke war vom Leipziger Platz aus sofort stromlos gemacht worden. Die Fahrgäste wurden aus den Wagen durch Beamte auf einem Steg, der von der Wärterbude zum Kühlhaus führt, dorthin geleitet, gelangten durch kleine Kletterkunststücke in die Maschinenhalle der Kühlanlagen, von da in den Hof und dann ins Freie. Die meisten Fahrgäste beeilten sich, von der Unglücksstätte wegzukommen, einesteils um die Angehörigen zu beruhigen, andernteils, um dem furchtbaren Jammer, der im Hof herrschte, zu entgehen.

Räumungsarbeiten

Auf eine ausführlichere Meldung von der Größe der Katastrophe waren inzwischen weitere Züge der Feuerwehr an der Unglücksstätte erschienen. Ein großes Schutzmannsaufgebot erschien und sperrte die Kühlanlagen sowie die umliegenden Straßen gegen die nach vielen Tausenden zählende Menschenmenge ab. Die Feuerwehr und Angestellte der Hochbahngesellschaft begannen nach drei Uhr, als alle Toten und Verwundeten bereits weggeschafft waren, mit den Aufräumungsarbeiten. Im Hof der Kühlanlagen wurden die Fetzen der Kleider Verunglückter, zerrissene Hüte, zerbrochene Schirme und Stöcke. Taschen und andere Gegenstände, die den Verunglückten gehörten, aufgelesen und zu einem großen Paket vereinigt. Dann wurde der Hof abgesperrt, da man, trotzdem es nicht wahrscheinlich war, doch damit rechnen musste, dass der zum Teile überhängende Wagen zweiter Klasse in den Hof herunterstürzen würde. Oben auf dem Gleisdreieck wurde fieberhaft unter Leitung von Ingenieuren daran gearbeitet, die Wagen der beiden Züge, die außerhalb des Gleises waren, zurückzuschieben und auf das Gleis zu bringen. Es war eine sehr schwierige Arbeit und bis zum Abend war man so weit gekommen, dass die Wagen des Leipziger Platz-Zuges in der Richtung weitergeschoben wurden. Die beiden Züge, die nach der Katastrophe nebeneinander gestanden, waren nun voneinander getrennt. Die völlige Räumung und Wiederherstellung des Gleises wird voraussichtlich mehrere Tage beanspruchen und vor Mittwoch oder Donnerstag wird der Verkehr auf diesen beiden Gleisen des Dreiecks nicht wieder aufgenommen werden können.

Die Verunglückten

Die Zahl der Verunglückten ist, wie erwähnt, noch nicht genau festgestellt. Getötet oder erheblich verletzt wurden lediglich Passagiere des herabgestürzten Wagens. In dem Wagen befanden sich ungefähr fünfzig Fahrgäste, meist Angestellte, die sich während der Mittagspause auf der Fahrt von ihren im Westen gelegenen Arbeitsstätten nach ihren Wohnungen im Osten oder Süden Berlins befanden. Die verunglückten Frauen waren in der Mehrzahl Verkäuferinnen. Unter den verunglückten Männern befindet sich der Führer des Bülowstraßen-Zuges.

Verkehrsstörungen

Die Verkehrsstörung durch das Ungück war sehr empfindlich. Der Hochbahnbetrieb war vier Stunden vollständig eingestellt. Auf den Bahnhöfen waren rote Plakate mit der Aufschrift »Wegen Störung auf Dreieck bis ? gesperrt« angebracht. Der Verkehr wurde um sechs Uhr abends in beschränktem Umfang wieder aufgenommen. Es wurden Züge vom Westen zum Leipziger Platz und vom Osten bis zum Halleschen Tor abgelassen, doch blieb ihre Benutzung seitens des Publikums minimal. Wir sahen gegen sieben Uhr am Halleschen Tor zwei Züge, die völlig menschenleer waren, was bei dem Schrecken, der der Bevölkerung durch die Katastrophe in die Glieder gefahren ist, auch nicht wundernimmt. Um so stärker waren die Straßenbahnen und Omnibusse überlastet; diese Verkehrsmittel vermochten den Massenandrang kaum zu bewältigen.

Das Gleisdreieck

Das Gleisdreieck, auf dem sich das Unglück ereignete, ist, so merkwürdig es klingt, eine Einrichtung, die eigens zu dem Zwecke hergestellt wurde, um Unfälle zu verhüten. Wenn es gestern diese seine Aufgabe nicht zu erfüllen vermochte, so liegt dies nicht etwa an seiner Unzulänglichkeit, sondern an dem Mangel an menschlicher Aufmerksamkeit, gegen den auch die besten und vollkommensten technischen Einrichtungen keine Sicherheit zu bieten vermögen.

Der Grund, der zur Errichtung des Gleisdreiecks führte, lag darin, dass Berlin schon ein älteres, aber unvollkommeneres Gleisdreieck besaß, als mit dem Bau der Hoch- und Untergrundbahn begonnen wurde. Es befindet sich an der Ringbahn in der Nähe der Station Schöneberg und wird täglich von einer großen Menge von Zügen befahren, ohne dass sich bisher ein Unfall ereignet hätte. Als die Techniker der zu errichtenden Hoch- und Untergrundbahn dieses alte Gleisdreieck studierten, sagten sie sich sehr richtig, dass hier unter gewissen Voraussetzungen ein Ineinanderfahren zweier Züge durchaus nicht ausgeschlossen sei. So sann man denn auf Verbesserungen, und es entstand das neue, das infolge seiner technischen Ausgestaltung berühmt gewordene Gleisdreieck. Sein charakteristisches Merkmal besteht darin, dass sich auf ihm niemals zwei Züge auf demselben Niveau begegnen können, dass also sogenannte ›Niveaukreuzungen‹ vermieden werden. Zu diesem Zwecke sind die sechs Schienenstränge, die sich hier treffen, auf besonderen Viadukten über- und untereinander weggeführt. Für jedes Gleis ist auch eine besondere Strecke vorgesehen, die über alle übrigen weg oder auch unter ihnen hindurchführt, die aber an keinem Punkt auf demselben Niveau mit den anderen Strecken liegt, außer an den Endpunkten, wo eben die ganze Einrichtung überhaupt wieder auf das gewöhnliche Niveau der ganzen Bahnstrecke übergeht. Da, wo auf dem Gleisdreieck die Züge über- und untereinander wegfahren, kann natürlich nichts passieren, und Zusammenstöße sind hier vollkommen ausgeschlossen. Die einzigen Punkte, wo solche überhaupt denkbar sind, sind die eben erwähnten Endpunkte des Gleisdreiecks, und hier hat sich auch der gestrige Unfall ereignet. Dass hier die schwächsten Stellen der ganzen Einrichtung sind, hat man bei einer so gut durchdachten Anlage, wie es das Gleisdreieck ist, natürlich schon früher erkannt, und man hat deshalb besondere Signalvorrichtungen angebracht, um ein Zusammenstoßen zweier in derselben Richtung fahrender Züge zu verhüten. Diese Signalvorrichtungen werden von einem in einem erhöht angebrachten Häuschen, von dem aus man das ganze Gleisdreieck zu übersehen vermag, befindlichen Stellwert aus bedient. Man ist mit der Vorsicht so weit gegangen, dass die wenigen hier befindlichen Hebel, zu deren Handhabung ein Mann vollkommen genügen würde, ständig von zwei Mann bedient werden, so dass immer eine Kontrolle des einen durch den anderen stattfindet. Diese beiden Signalwärter hatten auch gestern ihre Schuldigkeit getan – gegen das Überfahren eines Signals seitens eines unachtsamen Fahrers haben aber alle diese so sorgfältig durchdachten und in Fachkreisen für mustergültig gehaltenen Einrichtungen leider nicht zu schützen vermocht!

Blocksignale und Sicherheitseinrichtungen

(Von unserem technischen Mitarbeiter)

Die technischen Einrichtungen der Strecke sowohl wie des Zuges haben in jeder Hinsicht richtig funktioniert. Das Gleisdreieck ist mit Blocksignalen versehen, von denen speziell die beiden hier in Betracht kommenden so ausgestaltet sind, dass das eine nur auf ›freie Fahrt‹ gestellt werden kann, wenn das andere auf ›Halt‹ steht. Wenige Sekunden vor dem Unglück zeigte das Signal der Strecke Bülowstraße – Möckernbrücke freie Durchfahrt an, so dass also das der Strecke Leipziger Platz – Möckernbrücke auf ›Halt‹ stehen musste. Trotz aller Vorschriften, und trotzdem über jedem Führerstand noch die Worte stehen: »Überfahren eines Haltesignals wird mit sofortiger Entlassung bestraft«, fuhr der Fahrer des vom Leipziger Platz kommenden Zuges einfach weiter.

Sein Zug war an der Unglücksstelle dem anderen Zug, dessen Strecke obendrein Gefälle gehabt hatte, etwas voraus. So kam es, dass ihn der Zug Bülowstraße – Möckernbrücke seitlich traf. Nun hätte man annehmen sollen, dass der vom Leipziger Platz kommende Zug nach links hinausgeworfen worden und sodann abgestürzt wäre. Hiervor bewahrte ihn jedoch die dicht links neben seinem Gleis befindliche Mauer, die eine andere, höher gelegene Schienenstrecke trägt. Infolgedessen wurden nur seine Fensterscheiben zerbrochen, die Wagen verschrammt usw. und auch die Passagiere kamen ohne Verletzungen davon. Dagegen wurde der von rechts kommende Zug Bülowstraße – Möckernbrücke infolge des Widerstandes, auf den er traf, aus den Schienen gehoben, sein erster Wagen wurde nach rechts gedreht und fiel etwa 12 Meter tief herunter. Hierbei überschlug er sich noch einmal und kam auf das Dach zu liegen, das zerbrach. Die Seitenwände spreizten sich, und die schwere im Untergestell befindlichen Motoren und Eisenteile fielen den Insassen auf den Kopf. Dieser Umstand erklärt auch die große Zahl der Toten. ͤ

Ein Glück im Unglück war es, dass beim Absturz des ersten Wagens die Kupplung riss. Infolgedessen blieben die drei übrigen Wagen des Zuges – ein Zweiter- und zwei Dritter-Klasse-Wagen – stehen und stürzten nicht mit ab. Die Züge haben durchgehende Luftdruckbremsen, die beim Reißen einer Kupplung selbsttätig in Wirkung treten. Dies war auch hier der Fall und die sofort wirkenden Bremsen schützten die erwähnten drei Wagen vor dem Absturz. Aber immerhin war für deren Insassen die Gefahr noch nicht beseitigt, denn beim Herausstürzen aus dem Wageninneren könnten sie leicht mit den stromführenden Schienen in Berührung kommen. Aber auch hier bewährten sich die Sicherheitsvorrichtungen, denn schon wenige Sekunden nach dem Zusammenstoß war die Strecke stromlos, so dass jede Gefahr durch elektrischen Strom beseitigt war.

Das Unglück hat wieder einmal gezeigt, dass unsere Sicherheitseinrichtungen im Bahnverkehr so lange nicht als absolut vollkommen angesehen werden können, als dabei die Aufmerksamkeit des Menschen in Frage kommt. Nur dann, wenn es gelingt, diese vollkommen auszuschalten oder im Fall des Versagens durch absolut sicher wirkende automatische Vorrichtungen zu ersetzen, ist der Idealzustand eines wirklich sicheren Betriebes erreicht! Schon lange wird mit Eifer an der Lösung dieses Problems gearbeitet und es sind speziell in jüngster Zeit eine ganze Anzahl vorzüglicher Vorrichtungen erdacht worden, deren sich eben anbahnende Einführung die nächste Etappe in der Entwickelung unserer Verkehrstechnik darstellen dürfte. Gegenwärtig z. B. probiert die preußische Eisenbahnverwaltung ein derartiges System, das von Braam, auf der Strecke Halle – Bitterfeld aus, bei dem das Überfahren eines Haltesignals seitens des Lokomotivführers deshalb den Zug nicht ins Verderben führen kann, weil er dann sofort selbsttätig gebremst wird. Das System beruht darauf, dass an der Strecke zwei Signale angebracht sind. Stehen diese auf ›Halt‹ und fährt der Zug trotzdem weiter, so ertönt nach dem Überfahren des ersten Signals auf der Lokomotive ein akustisches Signal, das den säumigen Maschinisten an seine Pflicht erinnert, während nach dem Überfahren des zweiten der Zug selbsttätig gebremst wird. Außerdem wird der Vorgang noch automatisch registriert, so dass er aktenmäßig festgelegt ist und der unaufmerksame Fahrer zur Rechenschaft gezogen werden kann. Die Wirkung kommt dadurch zustande, dass neben den Gleisen Hebel angebracht sind, die sich bei Haltestellung der Signale aufrichten und dadurch sowohl das akustische Signal wie dir Bremse auslösen. Stehen die Signale auf ›Freie Fahrt‹, so kommen die Hebel nicht zur Wirkung. Besondere Vorrichtungen ermöglichen eine ständige Kontrolle, ob die Einrichtung in Ordnung ist.

So mannigfache Vorzüge derartige Vorrichtungen auch aufweisen, so sträuben sich viele Verwaltungen doch, sie einzuführen, weil man fürchtet, dass sich der Fahrer allzu sehr auf sie verlässt und dann in seiner Aufmerksamkeit nachlässt. Um diesen gewiss berechtigten Bedenken Rechnung zu tragen, ist man je zur Anbringung der eben beschriebenen automatischen Registriervorrichtung übergegangen, die jede Unachtsamkeit des Maschinisten aufzeichnet und seine Bestrafung ermöglicht. In England sind derartige Einrichtungen schon im Gebrauch, und auch ein Teil der in London verkehrenden Untergrundbahnen besitzt sie. Hoffentlich zeitigt das gestrige Unglück wenigstens das Gute, dass auch die hiesige Hoch- und Untergrundbahn sich baldigst zu ihrer Erprobung resp. Einführung entschließt!

Chronik der Hochbahnkatastrophen

Im Betrieb der Berliner Hochbahn hat sich bereits einmal ein Unfall ereignet, der dem Wesen nach der gestrigen Katastrophe ähnlich ist, wenn er auch nicht so furchtbar schwere Folgen gehabt bat. Am 20. Juni 1902 fuhr ein vom Stralauer Tor kommender Zug in einen auf der Fahrbahn am Schlesischen Tor haltenden Zug hinein. Nur dem Umstand, dass der rammende Zug nicht mit voller Geschwindigkeit fuhr, ist es zu danken, dass damals eine Katastrophe hintangehalten wurde. Immerhin wurden bei jenem Unfall dreizehn Personen, Männer, Frauen und Kinder, mehr oder minder erheblich verletzt. Als Ursache des Zusammenstoßes wurde angegeben. dass auf der Station Stralauer Tor eine Blockstörung vorgelegen habe, die nicht rechtzeitig gemeldet worden sei.

Sehr schwere Unglücksfälle hat es im Betrieb der New Yorker Hochbahn gegeben. Am 22. Mai 1905 stießen auf der Fahrbahn zwei Hochbahnzüge zusammen und das Unglück wurde noch dadurch vergrößert, dass infolge Kurzschlusses das Hochbahngerüst in Brand geriet. Viele Personen sprangen aus den Fenstern der Wagen. Zwanzig wurden schwer verwundet. Weit entsetzlicher in seinen Folgen war die Katastrophe, die sich am 11. September 1905 auf der New Yorker Hochbahn ereignete. An diesem Tage stürzte ganz so wie gestern bei uns ein Wagen eines Hochbahnzuges auf die Straße hernieder. Zehn Menschen blieben tot, vierzig wurden schwer verletzt. An diesem Unglück war ein Weichensteller schuld. Er hatte den Zug auf ein Rangiergleis geleitet, das am Gitter des Bahnkörpers endete. Der erste Wagen des Zuges zertrümmerte das Gitter und stürzte in die Tiefe. Der zweite Wagen entgleiste, blieb aber auf dem Bahnkörper stehen. Der dritte Wagen blieb unversehrt, obwohl er aus der Fahrtrichtung geschoben war und mit einem Viertel seiner Länge über das Gleisgerüst hinausragte.

Von geradezu entsetzlichen Folgen war jenes Unglück, das sich auf der Pariser Stadtbahn am 10. August 1903 ereignete. Am Abend dieses Tages geriet ein mit Reisenden dicht besetzter Zug auf der Untergrundbahnstation Couronne in Brand. In der entsetzlichen Verwirrung, die entstand, konnten die Passagiere den Ausgang aus dem Tunnel nicht gewinnen, und so kam es, dass mehr als hundert Personen in dem Tunnel ein Massengrab fanden. Sie verbrannten teils, teils erstickten sie, teils wurden sie von den Flüchtenden zertreten. Die Ursache dieses furchtbaren Pariser Unfalls war eine ganz eigenartige. Kurz vor dem Unglückszug war ein Leerzug in Brand geraten. und ehe die Strecke blockiert werden konnte, kam der dicht besetzte Personenzug herangebraust und fuhr direkt in die Flammen des brennenden Leerzuges hinein.

• Auf epilog.de am 26. September 2023 veröffentlicht

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