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Straßenbahn mit senkrechter Spur

Daheim • 19.4.1890

Straßenbahn mit senkrechter Spur

Die Frage der in Europa allzu lange vernachlässigten Anwendung der elektrischen Kraft auf den Straßenbahnbetrieb scheint in ein neues Stadium zu treten. Die bekannte Firma Ganz & Co. ist in Budapest mit einem völlig neuen System hervorgetreten, welches sie als Straßenbahn mit senkrechter Spur (System Zipernowsky) bezeichnet und das hauptsächlich auch auf den elektrischen Betrieb zugeschnitten ist.

Die Zipernowskysche Bahn stellt das bisherige Gleis im wörtlichsten Sinne auf den Kopf: von der ganz richtigen Erwägung ausgehend, dass die gewöhnliche Spur im Niveau der Straßenzüge unverhältnismäßig viel Raum fortnimmt und im Bau (Straßenpflasterung auf fast 3 m Breite), wie in der Unterhaltung sehr hohe Kosten verursacht, dass sie in engen Straßen oft unmöglich erscheint, ordnet der Erfinder in wirklich origineller Weise die beiden Schienen nicht neben-, sondern untereinander an. Die obere Schiene – eine doppelte Schlitzschiene – liegt im Niveau der Straße, die untere in einem gemauerten Kanal unterhalb des Straßenpflasters; auf der oberen Schiene laufen die das Wagengewicht tragenden Räder, während von den Wagen aus feste Arme in den Kanal hinabreichen, die sich mittelst Führungsrollen gegen das auf beiden Seiten des Kanals angebrachte untere Schienenpaar stützen und so dem Wagen die erforderliche Stabilität verleihen. Ich glaube auf die Konstruktion lässt sich das Wort Ben Akibas: »Nichts Neues unter der Sonne!« in der Tat nicht anwenden. Die beigefügte Skizze macht das jedenfalls sehr interessante System ohne weiteres verständlich: der Wagenkasten K mit seinem Rahmen R ruht mittelst der Querträger auf den schief gestellten Laufrädern L. und diese wieder auf der Doppelschiene. Unter dieser befindet sich der Kanal N, in den die mit dem Wagengestell starr verbundenen Arme hineinreichen, um hier durch die Rolle F an den Führungsschienen E Halt zu finden. Der Kanal ist zugleich zur Aufnahme der elektrischen Zuführungsleitungen bestimmt.

Unbestreitbar hat der Gedanke, welcher der Zipernowskyschen Bahn zu Grunde liegt, viel für sich, jede Entlastung unserer verkehrsreichen Straßen ist ja mit Freude zu begrüßen. Es fragt sich nur, ob die Führung des Wagens zwischen den unteren Schienen wirklich dauernd die Stabilität des Wagens verbürgt, und dies müssen erst Versuche im größeren Maßstabe lehren.

• v. Sp.

Entnommen aus dem Buch:
Die Aufbruchstimmung und der technische Fortschritt im 19. Jahrhundert führten zu immer neuen Erfindungen, die den Verkehr beschleunigen und die Antriebe optimieren sollten. Dabei wurde oft das System von mit Dampflokomotiven bespannten Zügen auf zwei Schienen grundlegend in Frage gestellt. Manche dieser Ideen sind heute wieder aktuell, und so lohnt sich ein unverfälschter Blick auf dieses interessante Kapitel der Verkehrsgeschichte.
  PDF-Leseprobe € 18,90 | 148 Seiten | ISBN: 9-783-7583-7184-4

• Auf epilog.de am 2. Mai 2024 veröffentlicht

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