Bau & ArchitekturBrücken

Die Seufzerbrücke

Pfennig Magazin • 1.6.1833

Seufzerbrücke

Es gibt nicht leicht eine berühmtere Brücke, als die Seufzerbrücke, Ponto dei Sospiri, in Venedig. Es gibt aber dessen ungeachtet wohl auch keine Unansehnlichere. Sie ist kaum eine Brücke zu nennen, denn ihre Gestalt kommt mehr einem großen Gepäckwagen gleich, da sie von allen Seiten verschlossen, überwölbt und nicht einmal mit einem Fenster oder einem Luftloch versehen ist. Wodurch ward sie denn nun so berühmt oder berüchtigt? Weil von Hunderten, die über sie wanderten, selten einer ohne Tränen, ohne Seufzer, ohne Klagen diesen Weg ging, weil so viele, die von außen sie erblickten, nicht ohne Schaudern und Seufzen das Auge wieder wegwendeten. Seit Jahrhunderten war sie der Schrecken der Staatsgefangenen, die in den Kerkern, welche dem Dogenpalast gegenüberliegen, ihrem Schicksale entgegen sahen. Meistens endete dies mit dem Tod, zu welchem das furchtbare Gericht der Zehn sie verdammte. Wenn sie vor demselben erscheinen sollten, holte man sie aus ihrem Gefängnis ab, führte sie über diese Brücke in den Dogenpalast, und gewöhnlich kehrte niemand zurück. Die Vollziehung des Urteils folgte dem Ausspruch der Zehn fast auf dem Fuß. Auch jetzt noch ist diese Brücke mit Recht eine Seufzerbrücke zu nennen. Gibt es auch keinen Dogen, kein Gericht der Zehn mehr in Venedig, so findet man doch noch den Dogenpalast und die Kerker ihm gegenüber und ein hohes Tribunal dort, so wie fast stets Gefangene hier, welche dann eben so wie sonst über die Seufzerbrücke vor den Richter gebracht werden, ihr oft hartes Urteil zu vernehmen.

Entnommen aus dem Buch:
Die ›Zeitreisen‹ knüpfen an die Tradition der Jahrbücher und Zeitschriften ›zur Bildung und Erbauung‹ aus dem 19. Jahrhundert an. Eine bunte Auswahl von Originalartikeln begleitet den authentischen und oft überraschend aktuellen Ausflug in die Geschichte.Kultur- und Technikgeschichte aus erster Hand, behutsam redigiert, in aktueller Rechtschreibung und reichhaltig illustriert.
  PDF-Leseprobe € 14,90 | 148 Seiten | ISBN: 978-3-7562-0128-0

• Auf epilog.de am 14. Juli 2017 veröffentlicht

Reklame