Bau & Architektur – Brücken
Die Jenisseibrücke der sibirischen Bahn
Das Neue Universum • 1899
Das nun schon mehr als zur Hälfte vollendete Riesenwerk der sibirischen Eisenbahn weicht in seiner Anlage und Ausführung von allen früheren Eisenbahnbauten wesentlich ab. Nicht nur dass trotz des fruchtbaren, die endlose Bahnstrecke auf beiden Seiten einschließenden Geländes die Einsamkeit und Unbewohntheit auf Hunderte von Kilometern so groß ist, dass zuzeiten Nahrungsmangel und Wassernot den Fortschritt der Bauten ernstlich behinderte, nicht nur, dass trotzdem im ganzen die Arbeiten mit einer so ungewöhnlichen Geschwindigkeit fortgeführt worden sind, wie man es nie für möglich gehalten hätte, auch die Methode des Baus ist eine ganz andere gewesen, als sie sonst für Eisenbahnen so großen Umfanges üblich war. Mit Hast und Eile wurden von beiden Enden her die Schienenstränge gleichsam in die Wildnis hinausgebaut, um nur erst einen Weg zu schaffen, der dem Material für die weitere Bahnstrecke wenigstens provisorisch als Beförderungsstraße dienen konnte. Wo nur immer möglich, wurde das an Ort und Stelle massenhaft vorkommende Material, das Holz des Waldes, zum Bau benutzt, und selbst umfangreiche Brückenbauten, die des Strom- und Eisganges wegen später auf alle Fälle in Stein und Eisen auszuführen waren, scheute man sich nicht, provisorisch aus Holz zu konstruieren.
Bau der Jenisseibrücke.So erklärt es sich, dass, als die Züge der sibirischen Eisenbahn schon längst bis tief ins Herz von Asien führten, die meisten unterwegs zu übersetzenden Ströme nur erst Verkehrsmittel von sehr primitivem Charakter besaßen. Hier wurde auf Fähren, dort auf Holzbrücken von zweifelhafter Festigkeit übergesetzt. Jetzt indessen, wo sich die Bahn auch in der zweiten, östlichen Hälfte ihres Verlaufs der Vollendung nähert, ist man fieberhaft bestrebt, die noch vorhandenen Lücken zu schließen und besonders die breiten und reißenden Ströme des Landes in solider und dauerhafter Weise zu überbrücken.
Der größte und gleichzeitig reißendste unter diesen Strömen ist der gewaltige Jenissei. An Länge und Wasserfülle zu den zehn größten Flüssen des Erdballs gehörig, wälzt er seine Wassermassen zweimal in jedem Jahre, im Frühjahr und Herbst, mit solcher Gewalt, dass alsdann von Arbeit in oder an seinen Wellen keine Rede sein kann. Nur im Winter und Hochsommer kann man auf einen gedeihlichen Fortgang der Arbeiten rechnen. Die Länge der Brücke beträgt in Anbetracht der riesigen Wassermassen zur Flutzeit nicht weniger als 915 m, eingeteilt in sechs mächtige Spannnngen von je 143 m. Von den hohen Granitpfeilern stehen zwei an den Ufern, fünf im Strombett, doch werden auch die letzteren nur bei Hochwasser sämtlich vom Strome berührt, bei Niedrigwasser liegen sie meist trocken. Die Gründung der Pfeiler erfolgte, wie meist bei modernen Brückenbauten, auf Senkkästen oder Caissons von bedeutender Größe und Tiefe, die aus Gründen der Billigkeit aus Holz hergestellt wurden, während der Oberbau gänzlich aus Stein und Eisen besteht. Unsere beiden Abbildungen veranschaulichen die Arbeiten während des Baues der Brücke.