Bau & Architektur – Brücken
Die Forthbrücke
Prometheus • 1889
Der verflossene Sommer 1889 hat uns von dem unschönen und im Grunde unnützen Eiffelturm so viele Ansichten und Beschreibungen gebracht, dass es eine wahre Wohltat ist, einmal von einem anderen Bauwerke zu hören, zumal wenn dieses Werk unvergleichlich großartiger angelegt ist und überdies praktischen Zwecken dienen soll. Wir meinen die ihrer Vollendung entgegengehende Brücke über den Firth of Forth.
Die Forthbrücke. Seitenansicht eines Pfeilers.Unvergleichlich großartiger sagen wir. Davon zeugen schon die Abmessungen der beiden Bauten. Die Forthbrücke weist zwei Hauptjoche und eine Anzahl Zufahrtjoche auf. Die Entfernung zwischen den Achsen der drei Hauptpfeiler, welche die Hauptjoche tragen, beträgt nun nahe an 600 m! Wollte man also jeden äußeren Pfeiler mit einem Eiffelturm, den mittleren Pfeiler mit zwei solchen Türmen krönen, diese Türme alsdann senken, wie man es mit einem zu transportierenden Obelisken tut, so würden die Spitzen ungefähr aufeinandertreffen und zwei Türme zusammen ein Joch der Forthbrücke abgeben. Für dieses Bauwerk hat man also, von den Zufahrten abgesehen, mindestens viermal so viel Eisen verwendet, als für das Spielzeug, welches die Pariser zur Verherrlichung der 1889er-Ausstellung errichteten. Die Forthbrücke ist aber noch in anderer Hinsicht bemerkenswerter als der 300 m-Turm. Wir verkennen die ungeheuren Schwierigkeiten nicht, welche sich besonders dem Bau des oberen Teils der Eiffelschen Schöpfung entgegentürmten. Wir meinen aber, es sei doch bedeutend leichter, in die Höhe, mit sicheren Unterlagen, zu bauen, als horizontal, über einen schwindelerregenden Abgrund und ohne eine andere Stütze für die immer weiter vorgeschobenen Eisenteile als die Festigkeit der Nietverbindungen. Eine Brücke bedingt mit anderen Worten stets einen höheren Grad von Scharfsinn als ein, wenn auch noch so kühnes Werk des eigentlichen Hochbaus.
Sich ohne eigene Anschauung einen Begriff von der Großartigkeit des Werks der Ingenieure Fowler und Baker zu bilden, fällt ungemein schwer. Allerdings kann man durch Vergleiche mit anderen Bauten dem Fassungsvermögen zu Hilfe kommen; doch leiden solche Vergleiche wiederum an dem Übelstand, dass die herangezogenen Verhältnisse nur einem kleinen Teil der Leser bekannt sind. Der Berliner erhält einen ziemlich guten Begriff von der Anlage, wenn wir ihm folgende Angaben vor Augen führen: Eine Öffnung der Brücke ist 518 m, das heißt ebenso lang als die Linden von der Friedrichs- bis zur Wilhelmstraße; die beiden Hauptjoche zusammen würden die Strecke vom Brandenburger Tor nach der Spree beim Schloss überbrücken, während der ganze 2465 m lange Bau vom Hallischen Tor bis zur Stadtbahn reichen würde. Leider sind diese Maße nur dem Berliner oder den Besuchern der Hauptstadt verständlich. Gleiches gilt von den Angaben über die Länge der frei schwebenden Brückenteile, welche die Konsolen der Pfeiler verbinden, also gleichsam den Schlussstein bilden. Sie haben 106 m Stützweite, sind also ebenso lang als die Joche der Düsseldorfer Rheinbrücke.
Schematische Ansicht der Forthbrücke mit Angabe der Maße.A. Gesamtansicht, B. Oberansicht eines Joches, C. Seitenansicht eines Joches,
Was die Höhe der drei Hauptpfeiler anbelangt, so wollen wir nur bemerken, dass sie 109 m beträgt, so dass die Petrikirche in Berlin diese Pfeiler um 13 m überragt. Die Türme des Kölner Doms sind nur 48 m, die des Straßburger Münster nur 34 m höher. Diese Angaben beziehen sich auf die Gesamthöhe der Pfeiler; die Brückenbahn selbst schwebt nur 45,7 m über Hochwasser.
Um mit den Zahlen endlich aufzuräumen, wollen wir noch erwähnen, dass die Öffnungen der Forthbrücke die der berühmten Hängebrücke über den East River bei New York um 17 m übertreffen, und dass man bisher bei festen Brücken eine Lichtweite von 165 m nicht überschritten hatte. Dies ist nämlich die Länge der von Eiffel gebauten Garabit-Brücke im südlichen Frankreich. Was aber das viel angestaunte New Yorker Bauwerk anbelangt, so ist zu bemerken, dass es nur für Straßenfuhrwerke und Seilbahnwagen bestimmt ist, während die Forthbrücke die Last von zwei schweren Güterzügen mit Lokomotiven aushalten soll. Das macht einen erheblichen Unterschied.
Wodurch ist ein solcher Fortschritt, eine Überschreitung der bisher für zulässig erachteten Spannung um das Dreifache möglich geworden? Einen Anteil mögen die Verbesserungen an der Konstruktion selbst daran haben: Hauptsächlich liegt es aber an der Ersetzung des Eisens durch den Stahl. Die Forthbrücke besteht hauptsächlich aus Siemens-Martin-Stahl, welcher zum guten Teil aus den Siemens-Werken in Llandore hervorging. Die Festigkeit dieses Stoffs ist so groß, dass mit der Forthbrücke die Grenze der zulässigen Spannungen keineswegs erreicht zu sein scheint. War doch bereits von der Überbrückung der Meerenge von Messina mit Jochen von tausend Metern und von einer Brücke über die Meerenge Pas de Calais mit ähnlichen Verhältnissen ernstlich die Rede.
Wie der Leser aus unseren Abbildungen ersieht, gehört die Forthbrücke zu den sogenannten Konsolträgerbrücken. Der Vorgang beim Bau ist der, dass man von den Pfeilern aus immer weitere Eisenteile an die bereits verlegten annietet und auf diese Weise den Abgrund allmählich überbrückt. Lassen sich hierbei Rüstungen anbringen, so ist die Arbeit natürlich bedeutend erleichtert. Doch ging dieses bei der Forthbrücke wegen der Höhe der Pfeiler und der 60 m betragenden Tiefe des Wassers nicht. Letzterer Umstand war auch der Grund, weshalb man zu den weiten, natürlich sehr kostspieligen Spannungen griff. Bestände die in der Mitte sichtbare, bei Hochflut überschwemmte Insel Garvie nicht, auf welcher der Mittelpfeiler ruht, so wäre der Bau überhaupt unmöglich gewesen.
Beim Bau des Eiffelturms bestand eine Hauptschwierigkeit darin, nicht aus der Senkrechten zu kommen; bei der Forthbrücke galt es außerdem, bei jedem Annieten eines neuen Eisenteils die gerade Richtung einzuhalten. Es ist dies eine Schwierigkeit ähnlich derjenigen, die beim Vortreiben eines Tunnels den Ingenieuren entgegentritt, wenn dieses Vortreiben von beiden Endpunkten zugleich erfolgt. Eine Abweichung von nur einem Millimeter, und es würden die vorgeschobenen Konsolen in der Mitte nicht zusammentreffen, die ganze Arbeit wäre umsonst. Unsere Abbildung veranschaulicht dieses Vortreiben der Konsolen aufs Trefflichste.
Umsonst auch die Arbeit, wenn sich die Kästen, auf denen die Pfeiler ruhen, und diese selbst gesenkt hätten. Das Versenken dieser Kästen und das Aufmauern der Pfeiler-Unterlage hat allein zwei Jahre beansprucht und war im März 1886 fertig. Seitdem haben an dem Stahlbau selbst durchschnittlich 3500 Mann ununterbrochen gearbeitet.
Wir bemerkten oben, dass die Forthbrücke zwei der schwersten Güterzüge zu tragen bestimmt ist. Doch ist das Gewicht dieser Züge mit etwa 800 t dem Gewicht der Brücke gegenüber (50 000 t, jedes Joch 16 000 t) so winzig, dass man es kaum in Berechnung zu ziehen braucht. Die Züge beanspruchen den Bau vielleicht nicht mehr als ein Fußgänger eine gewöhnliche Brücke. Viel bedeutender ist der Winddruck, zumal es dort oben in Schottland arg zu wehen pflegt. Dieser Druck erreicht das 2½-fache der Zuglast und durfte bei den ärgsten Stürmen etwa 170 kg/m² betragen. Einer solchen Beanspruchung aber ist die Brücke mehr als gewachsen, und sie wird das Schicksal ihrer Schwester, der umgewehten Taybrücke, sicherlich nicht teilen.
Die Forthbrücke gedenkt man, gegen Ende des Jahres 1889 zu vollenden. Die Schlussrechnung der Unternehmer dürfte den beteiligten Bahnverwaltungen einige Kopfschmerzen bereiten. Man spricht von 80 Millionen Mark [rd. 672 Mill. € in 2023].
• G. van Muyden