Forschung & TechnikWissenschaft

Siegfried Hartmann

Schall- und Lichtgeschwindigkeit

Merkwürdige Schallerscheinungen, Messung von Sterngeschwindigkeiten

Naturwissenschaftlich-Technische Plaudereien • 1908

Voraussichtliche Lesezeit rund 6 Minuten.

»Warum fahren nur so viele Wagen nach Berlin?«, fragte mich jüngst auf einer Droschken­fahrt nach Charlottenburg mein Freund Paul.

»Straßenbahnwagen?«

»Ja, auch Straßenbahnwagen.«

»Ich denke, es fahren eher noch zu wenig.«

»Ich meine, warum mehr Wagen nach Berlin als nach Charlottenburg fahren?«

»Wie kommst du auf den Gedanken?«

»Weil wir alle paar Minuten einem begegnen, während uns erst ein einziger eingeholt hat.«

»Das ist wohl nicht dein Ernst?«

»Mein voller Ernst.«

»Kutscher, halten sie mal an.«

»Warum lässt du denn halten?«

»Ich will dich von deinem Irrwahn heilen. Das ist denn doch zu toll. Die Wagen fahren in beiden Richtungen alle 7½ Minuten. Das gilt aber natürlich nur, wenn man an einer Stelle stehenbleibt und die Wagen an sich vorbeifahren lässt, wenn man dem einen Wagenzug entgegen­fährt, dann müssen einem doch selbstverständlich in der gleichen Zeit mehr Wagen begegnen und weniger einholen!«

»Hm, da hast du recht, selbstverständlich … natürlich … bitte, Kutscher, fahren Sie weiter … was man doch für Unsinn reden kann.«

»Ja, die alltäg­lichsten Dinge werden am wenigsten verstanden, das habe ich schon häufig erlebt … Überdies, du fragtest mich neulich, wie es die Astronomen anfangen, die Geschwindigkeit der Fixsterne zu berechnen?«

»Ganz recht.«

»Die Straßenbahnwagen bieten mir einen famosen Ausgangspunkt, um dir die Sache zu erklären.«

»Was haben denn die Straßenbahnwagen mit astronomischen Messungen gemein?«

»Wart ab, die Kette muss ich natürlich Glied für Glied schmieden. Die Straßenbahnwagen hier folgen sich in Abständen von 7½ Minuten. Wir wollen noch annehmen, dass der Fahrplan haarscharf eingehalten würde und dass kein Wagen unterwegs anhielt. Wenn wir jetzt mit unserer Droschke ebenso rasch führen, wie ein Straßenbahnwagen, dann würde uns keiner einholen und wir würden alle 3¾ Minuten einem begegnen. Die entgegenkommende Wagenkolonne würde uns doppelt so dicht erscheinen, als sie es in Wahrheit ist. Nun stelle dir zunächst vor, jeder Wagen markiere eine Schallwelle. Der Endpunkt der Straßenbahn sei die Schallquelle, von der die Schallwellen ausgehen. Um uns der Wirklichkeit zu nähern, nehmen wir an, die Schallwellen kommen uns mit der Geschwindigkeit des Schalles d. h. 333 m in der Sekunde entgegen, und zwar in einer Folge von 258 Stück in der Sekunde. Wenn wir dann stillstehen, würden wir sekündlich 258 Schwingungsimpulse mit unseren Ohren aufnehmen, d. h. wir würden den Ton c₁ oder das eingestrichene c hören. Wenn wir aber dann mit der Geschwindigkeit des Schalls den Schallwellen entgegenfahren, dann würde dasselbe eintreten wie vorhin bei den Straßenbahnwagen, wir würden der doppelten Zahl begegnen: d. h. unser Ohr würde sekündlich nicht mehr 258, sondern 2 × 258 = 516 Schwingungen aufnehmen, d. h. (ungefähr) das zweigestrichene c hören, einen doppelt so hohen Ton.«

»Das leuchtet ein. Die Erscheinung ist mir überdies auch gar nicht fremd, auf der Eisenbahn habe ich dasselbe oft bemerkt, wenn der Zug an einer pfeifenden Lokomotive oder einer Signalglocke vorüberfährt. Solange man sich der Schallquelle nähert, erscheint der Ton höher als er in Wirklichkeit ist, sobald man aber vorüberfährt, schlägt er deutlich um in einen weit tieferen.«

»Nun also. Um so mehr wird es dich freuen, wenn du dir jetzt über die physikalischen Ursachen der Erscheinung im klaren bist. Es geht alles mit rechten Dingen zu. Das, was ich dir eben erzählte, kann man natürlich durch das Experiment nicht beweisen, denn es ist bisher dem Menschen noch nicht möglich gewesen sich mit der Geschwindigkeit des Schalls zu bewegen, selbst die elektrische Schnellbahn hat es erst bis auf 70 m in der Sekunde gebracht. Auch das umgekehrte, nicht minder interessante Experiment ist uns aus dem gleichen Grund verschlossen: sich mit der Geschwindigkeit des Schalles von der Schallquelle fortzubewegen. Dann würde man nämlich gar nichts hören, ebenso wenig wie einen ein Straßenbahnwagen einholen kann, wenn man ebenso schnell wie er selbst fährt.«

»Das wäre famos, wenn man das könnte. So ein Schallfluchtvehikel würde ich mir sofort kaufen. Es wäre ein ganz vorzügliches Mittel, um einmal absolute Ruhe zu haben.«

»Du denkst wahrscheinlich wieder an deine klavier­übende Nachbarin. Aber leider ist dieser Weg, sich Ruhe zu verschaffen, noch nicht gangbar. Ich für meinen Teil würde es auch vorziehen, die Schallquellen selbst, z. B. alle falsch gespielten Klaviere, mit der Geschwindigkeit des Schalls in den Welten­raum zu befördern, und selbst ruhig und gemütlich in meiner Behausung sitzen zu bleiben. Denn es ist natürlich vollständig gleichgültig, ob ich der Schallquelle oder die Schallquelle mir entflieht. Nicht auf die absolute, sondern auf die relative Geschwindigkeit kommt es an.«

»Das könnte man doch überhaupt.«

»Was?«

»Mit der Geschwindigkeit des Schalles etwas weg­befördern, wegschießen. Die Geschwindigkeit der Geschosse übertrifft doch die des Schalles.«

»Da hast du recht. Das wäre auch ein Weg, um die Behauptung experimentell zu beweisen. Man brauchte nur an das Geschoss etwa eine Pfeife von bestimmter Tonhöhe befestigen, die Bedienung würde nichts von ihr, der Feind dagegen ihren Ton mehr wie doppelt so hoch vernehmen. Das gäbe auch umgekehrt ein Mittel, um die Geschwindigkeit des Geschosses zu bestimmen. Wenn jemand wüsste, welche Tonhöhe die Pfeife in Wirklichkeit hat, so könnte er, ein feines musikalisches Gehör vorausgesetzt, aus der Veränderung des Tons auf die Flugrichtung und die Geschwindigkeit des Geschosses schließen. Hört er z. B. einen doppelt so hohen Ton, so fliegt es mit 333 m in der Sekunde auf ihn zu. Damit wären wir überhaupt dort, wo ich hin­gewollt: bei der Bestimmung der Fixstern­geschwindig­keit. Alles das, was von den Schallwellen gilt, gilt nämlich auch von den Lichtwellen. Was wir beim Schall Tonhöhe nennen, das nennen wir beim Licht Farbe, d. h. die Farben unterscheiden sich voneinander nur durch die sekündliche Schwingungszahl der Lichtwellen. Das langsamste, unseren Augen noch wahrnehmbare Licht ist das rote, bei ihm treffen in der Sekunde etwa 400 Billionen Schwingungen unser Auge, das schnellste ist das violette mit etwa 800 Billionen Schwingungen in der Sekunde. Wäre es also menschenmöglich, dass ein Eisenbahnzug mit der Geschwindigkeit des Lichtes, d. h. 300 Millionen Meter in der Sekunde auf eine rote Laterne zuführe, so würde dem Lokomotivführer das Licht nicht rot, sondern entsprechend der scheinbar doppelt so großen sekündlichen Schwingungszahl violett erscheinen.

Das ist natürlich eine Fantasie, das können wir nur erdenken, aber niemals erleben und nie und nimmer durch das Experiment beweisen. Immerhin hat die eben entwickelte Theorie, die man auch das Dopplersche Prinzip nennt, den Weg gezeigt, um scheinbar unlösbare Aufgaben zu lösen. Wenn wir durch ein Fernrohr einen Stern betrachten, der so im Welten­raum steht, dass sich die Erde in ihrer Jahreslaufbahn auf ihn zubewegt, so erscheint er in einem bestimmten Licht. Nehmen wir ein Prisma zu Hilfe, so können wir das Licht in seine Farben zerlegen. Hierbei zeigt es sich gewöhnlich, dass an bestimmten Stellen des Spektrums charakteristische, scharf begrenzte feine farbige Linien sichtbar werden, die nach unserem Wissen davon herrühren, dass sich auf dem Stern glühende Dämpfe von bestimmter chemischer Zusammensetzung befinden. Wir wollen uns nun die Stellung dieser Linien ganz genau bezeichnen, es mag z. B. eine Linie in Rot sein. Dann warten wir ein halbes Jahr, bis sich die Erde in entgegengesetzter Richtung durch den Weltraum bewegt und beobachten wieder. Wenn jetzt die Linie um ein geringes nach Violett zu verschoben ist, so hat die relative Geschwindigkeit zwischen Erde und Fixstern zugenommen, erscheint sie nach dem roten Ende hin verschoben, so hat die relative Geschwindigkeit abgenommen. In letzterem Fall kommt der Stern auf jeden Fall auf uns zu, und zwar mit einer Geschwindigkeit, die größer ist als die Geschwindigkeit der Erde, im ersteren Falle bedarf er noch einer weiteren Untersuchung, ob er sich langsam nähert oder entfernt. Aus dem Grad der Verschiebung der farbigen Linien kann man das berechnen.«

»Das muss aber eine schauderhafte Rechnerei sein.«

»Das Rechnen mag noch gehen, aber die Beobachtungen müssen mit einer Schärfe und Genauigkeit gemacht werden, von der sich gewöhnliche Sterbliche nichts träumen lassen. Ein winziger Bruchteil eines Millimeters gibt die ungeheuerlichsten Fehler in der Geschwindigkeitsberechnung. Aber das braucht dich ja nicht zu bekümmern, du brauchst es ja nicht zu machen.«

»Gott sei Dank, aber ich bin dir dankbar, denn ich habe jetzt wenigstens eine Vorstellung davon, wie unsere Astronomen zu Wege gehen.«

• Auf epilog.de am 4. Dezember 2025 veröffentlicht

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