Feuilleton – Reisen
Die neueste Katastrophe auf dem Montblanc
Die Gartenlaube • 1866
Der Krieg hat natürlich im gegenwärtigen Sommer die Reiselust sehr in Schranken gehalten, auch die sonst von Touristen wimmelnde Schweiz und das angrenzende Hochsavoyen sind bis auf die allerjüngste Zeit, wo der wiederkehrende Frieden noch nachträglich manchen verschobenen Reiseplan zur Ausführung zu bringen beginnt, heuer recht fremdenleer geblieben; dennoch ist auch diese stille Saison nicht ihrem Ende nahegekommen, ohne uns Kunde von neuen Unglücksfällen aus der Alpensteigerwelt zu bringen, die, je kleiner diese letztere heuer selbst ist, um so mehr die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich lenken. Von einem dieser traurigen Begebnisse wollen wir nach uns gewordenen speziellen Mitteilungen im Nachstehenden einige Einzelheiten berichten, welche durch die Zeitungen minder bekannt worden sind.
Drei junge Engländer, die Gebrüder Young aus Berkshire, hatten die Schweiz bereist, und da sie dort mehrere der höchsten Alpengipfel glücklich erstiegen hatten, wollten sie, in Chamounix angelangt, ihrem Werk die Krone aufsetzen, indem sie dem Mont-Blanc-Gipfel, und zwar ohne Führer, einen Besuch abstatteten. Ihr Unternehmen gelang anfangs nach Wunsch. Am Morgen des 22. August sah man vom Tal aus durchs Fernrohr, wie die Reisenden auf dem höchsten Gipfel anlangten, und dieses Ereignis wurde, herkömmlichem Brauch nach, von dem Gasthof in Chamounix, wo sie gewohnt hatten, mit Böllerschüssen begrüßt. Kaum aber war das Echo der letzten Schüsse, welche den Rückzug anzeigten, verhallt, so bemerkten die Beobachter im Tal mit Entsetzen, wie die kühnen Wanderer eine mehrere Hundert Meter lange Schneewand hinunterrutschten, welche in einen steilen Abgrund ausläuft. Mit Haarsträuben sahen die Zuschauer, wie die drei Unglücklichen auch diesen Abhang hinunterstürzen; dann zeigt sich am Fuße nichts mehr, als eine ungestalte Masse in wirren Bewegungen, von welchen sich nichts genauer unterscheiden lässt.
Mit Blitzesschnelle verbreitete sich die Schreckensnachricht durch das ganze Chamounixtal. Die Führer, welche hier bekanntlich vollständig organisiert sind, werden sofort durch ihren Vorstand versammelt und eine Rettungskarawane abgeschickt, der sich auch der gerade anwesende, durch seine zahlreichen Mont-Blanc-Besteigungen ebenso wie durch seine trefflichen Gletscher- und Hochalpenbilder berühmte Maler Loppé aus Genf anschließt. Während sich der Zug in Bewegung setzt, durchspäht man den Schauplatz der Katastrophe abermals mit dem Fernrohr und sieht endlich mit Freude, dass es wenigstens zweien der Verunglückten gelingt, sich zu erheben, während der dritte bewegungslos auf dem Schnee liegenbleibt. Seine beiden Brüder verlassen ihn erst nach dreistündigen vergeblichen Bemühungen, ihn ins Leben zurückzurufen. Sie suchen wieder zu den sogenannten Petits Mulets zurückzukehren, indem sie auf ihrem Weg mit fortwährenden Gefahren zu kämpfen haben. Dort angelangt, schlagen sie die Richtung nach den Grands Mulets ein, wo sie den Augen der Beobachter verschwinden.
Grands Mulets Schutzhütte am Mont Blanc. Ausschnitt aus einem Gemälde von Gabriel Loppé.Die Rettungskarawane ihrerseits war indes rüstig vorgedrungen und langte zwischen Mitternacht und ein Uhr bei der bekannten Bretterhütte an, die den stolzen Namen des Hôtel Impérial des Grands Mulets führt. Dort traf sie zwei Franzosen, welche mit ihren Führern den Mont Blanc besteigen wollten. Kurz nachher gelangten auch die beiden unglücklichen Brüder Young an; der ältere schleppte mühsam den jüngeren fort, welcher seine blaue Brille bei dem Sturz verloren hatte und nun durch die glänzende Weiße des Schnees, wie das den in den Hochalpen Reisenden nicht selten begegnet, momentan gänzlich blind geworden war. Die Brüder erzählen in fliegender Hast die schreckliche Begebenheit: der eine war zuerst auf dem hartgefrorenen Schnee ausgeglitten und hatte dann durch das Seil, mit welchem alle Drei nach gewohnter Sitte verbunden waren, die beiden andern in seinen Fall hineingezogen. Nur schwer hatten sich die beiden Überlebenden, als sie sich von ihrer ersten Betäubung erholt, von der traurigen Tatsache überzeugen können, dass ihr jüngster Bruder wirklich tot war. Es folgten schreckliche Stunden in der grausigen Einöde, entsetzliche Gefahren bei der Fortsetzung der Wanderung. Trotz aller dieser überstandenen furchtbaren Anstrengungen ließ sich der älteste der Brüder Young dennoch jetzt nicht abhalten, die aus sechs Führern bestehende Karawane zu begleiten, um die Leiche des Verunglückten abzuholen.
Der Sturz hatte oberhalb jenes Wegs stattgefunden, auf welchem der erste Mont-Blanc-Besteiger, Jacques Balmat, den Bergriesen vor achtzig Jahren erklommen hatte, ein Weg, der seiner Gefährlichkeit wegen schon längst nicht mehr benutzt wird. Dorthin wandte sich also jetzt die Karawane. Lange Stunden vergingen, ohne dass die auf den Grands Mulets zurückbleibenden Personen etwas von dem Schicksal des Zugs erfuhren. Die erwähnten beiden Franzosen kehrten vom Mont Blanc zurück, allein sie hatten nichts von den Leuten bemerkt. Inzwischen umzog sich der Himmel immer düsterer, und bald fiel der Schnee in dichten Flocken. Dazu wusste man, dass die Führer ohne Mundvorrat waren. Die größte Besorgnis bemächtigte sich der Zurückgebliebenen; da ruft einer derselben, der ausgezeichnete Führer Baguette: »Lasst uns sie suchen!« Loppé, Favre, gleichfalls ein Genfer Maler, ein Gendarm und ein zweiter Führer schließen sich ihm an.
Man gelangt bis zum Grand-Plateau; nichts ist zu sehen, auch der Ruf verhallt in der weiten Schnee- und Eiswüste, ohne Antwort zu finden. Die Wanderer ermüden selbst; endlich macht Baguette noch eine letzte Anstrengung, eine steile Felswand zu erklettern, und ist glücklich, als er die fast Aufgegebenen auf einem einzelnen hohen Felsen erblickt. Sie hatten den Weg verloren und waren von Kälte erstarrt. Man wirft ihnen Seile zu und es gelingt ihnen, sich daran herabzulassen; Young lässt sich von der Leiche seines Bruders nicht trennen, auch sie wird auf diesem Wege mitgenommen. Die ganze Energie und Zähigkeit des englischen Charakters zeigt sich überhaupt in diesem jungen Mann. Er verschmäht selbst jetzt noch die so nötige Ruhe auf den Grands Mulets und kehrt noch in derselben Nacht nach Chamounix zurück, um am folgenden Morgen auf kürzestem Weg nach England zu reisen und der Mutter die Trauerbotschaft selbst zu bringen.
So schloss diese traurige Episode aus dem sommerlichen Touristenleben in Chamounix. Einige Tage später aber las man in einem Genfer Blatt die Ankündigung einer Fremdenpension in Mornex bei Genf (doch auf savoyischem Boden), worin nach Aufzählung aller sonstigen Annehmlichkeiten des dortigen Aufenthaltes auch angeführt wurde, dass man die Katastrophe vom 22. August 1866 von dort durch das Fernrohr habe ausgezeichnet beobachten können. Also »immer ’ran, meine Herren und Damen, wenn das Glück Ihnen wohl will, können Sie auch das Vergnügen haben, den einen oder andern Reisenden am Montblanc den Hals brechen zu sehen!« Im Punkt der Reklame werden wir Amerika bald nichts mehr vorzuwerfen haben.
• W. Lampmann