Feuilleton – Journalismus & Nachrichtenwesen
Die Massen-Verbreitung von
Nachrichten in Amerika
Prometheus • 27.3.1895
Der Amerikaner nimmt ein außerordentlich lebhaftes Interesse an den Vorgängen des öffentlichen Lebens; besonders tritt dies hervor, wenn es sich um Angelegenheiten der öffentlichen Wahlen und um Sportsereignisse handelt. Sein Sprichwort »Time is money« verlässt ihn auch hier nicht, und so scheut er selbst keine Anstrengungen, um möglichst schnell über die ihn augenblicklich interessierenden Angelegenheiten unterrichtet zu werden. Andererseits kann ein Unternehmer dort stets auf ein gutes Geschäft rechnen, wenn er im Stande ist, dem Publikum selbst gegen schweres Geld Nachrichten über brennende Tagesfragen schneller zukommen zu lassen, als Andere es vermögen.
Wenn irgendein Ereignis von hervorragendem allgemeinem Interesse das Publikum in Atem hält, so benutzen viele Tagesblätter die Gelegenheit, um den Beweis zu erbringen, wie ausgezeichnet gerade ihr Reporterwesen eingerichtet ist; sie entsenden, wenn beispielsweise zwei berühmte Boxer oder zwei Football-Parteien von großem Ruf einen Kampf auszufechten haben, Reporter, die, manchmal von Minute zu Minute, an ihre respektiven Redaktionen über den Gang des Kampfes telegrafische Mitteilungen schicken; diese werden dort sofort mittelst Kohle auf weiße Bögen von entsprechendem Umfang mit großen Buchstaben niedergeschrieben und diese Bögen dann vor dem Redaktionslokal angeschlagen; draußen harrt die Menge, die in dieser Weise mit geringer Verspätung von dem Gang des Kampfes fortdauernd unterrichtet gehalten wird. Es gehört durchaus nicht zu den Seltenheiten, dass die zu diesem Zweck vor einem Redaktionslokal angesammelte Volksmenge derart anwächst, dass in allen benachbarten Straßen jeder Wagenverkehr stockt. Die einzelnen Nachrichten werden hier häufig mit vielleicht noch lebhafteren Meinungsäußerungen begrüßt, als sie an dem unter Umständen Tausende von Kilometern entfernten Ort des Ereignisses diesem selbst von Seiten der dort versammelten Zuschauer zu Teil werden.
Wie gesagt, benutzen die Blätter dies als eine Reklame, um in auffälliger Weise zu zeigen, was sie alles aufbieten, um jederzeit ihren Lesern alle wichtigen Ereignisse mitzuteilen. Als Beispiel, welche Anstrengungen einzelne Blätter mitunter machen, um die Ersten zu sein, welche eine hochbedeutende Nachricht in die Welt senden, mag angeführt sein, dass eins der größten New Yorker Blätter, welches ein eigenes 14-stöckiges Haus mit einer großen, weithin sichtbaren Kuppel inmitten New Yorks besitzt, gelegentlich einer Präsidentenwahl, deren Ausgang zur Nachtzeit erwartet wurde, die ganze Kuppel mit blauen und roten elektrischen Glühlampen hatte versehen lassen, und dann Tags vorher an auffälliger Stelle ihren Lesern die Mitteilung gemacht hatte, dass die Kuppel rot oder blau beleuchtet werden würde, je nachdem der eine oder der andere von den beiden Kandidaten gewählt worden sei. In dieser Weise wurde die Nachricht im Nu durch ganz New York und die angrenzenden Städte sowie das benachbarte Land verbreitet.
Diejenige Zeitung, der es gelungen ist, bei einer solchen Berichterstattung die anderen zu überflügeln, kann sich ruhig schon in den nächsten darauffolgenden Tagen eine größere Auflage gestatten; denn die Folgen eines solchen Sieges in Bezug auf Berichterstattung machen sich sofort bemerkbar, weil die meisten Leser nicht abonniert sind, sondern jeden Tag die ihnen gerade konvenierende Zeitung kaufen.
Der reiche Amerikaner, dem es nicht ›fashionable‹ genug ist, sich auf offener Straße hinzustellen, um womöglich stundenlang von den nach einander eingehenden Mitteilungen Kenntnis zu nehmen, begibt sich nach seinem Clublokal, welches stets mit dem Telegrafenamt direkt telegrafisch verbunden ist, und nimmt hier die allmählich über den Draht eingehenden Nachrichten entgegen.
In jüngster Zeit ist man, wie die #Elektrotechnische Zeitschrift mitteilt, in Chicago noch einen Schritt weiter gegangen. Während der letzten Wahlen hat man dort einen Versuch gemacht, das Fernsprechnetz zu benutzen, um schnell die Nachrichten von dem Ergebnis der Wahlen zu verbreiten; man hatte eine Art ›mündliche Zeitung‹ in Szene gesetzt, auf die zu abonnieren allerdings nicht ganz billig war. Bei dem Interesse aber, welches das Publikum der Angelegenheit entgegenbrachte, wünschte jeder fortlaufend und möglichst schnell vom Stand und schließlich von dem Ausgang unterrichtet zu sein – und so ist dieser erste Versuch glänzend gelungen.
Das Hauptfernsprechamt in Chicago ist mit vielen größeren Städten der Union telefonisch verbunden; in diesen Städten führten die Verbindungen direkt nach dem Wahllokal, man konnte also im Chicagoer Hauptamt mit einem Minimum von Zeitverlust das Ergebnis und den Gang der Wahlen erfahren. Die eingehenden Nachrichten wurden dort redigiert und ein Beamter sprach nun mit lauter Stimme die Nachricht in ein sehr kräftiges Mikrofon hinein, welches mit sämtlichen kleineren Ämtern Chicagos verbunden war, diese erhielten also alle gleichzeitig die Mitteilung; hier wie auf dem Hauptamt wurde dann die Nachricht mittelst Schreibmaschine vervielfältigt. Die für diesen Zweck bestimmten Maschinen sind von besonderer Konstruktion, so dass man auf Seidenpapier mit zwischenliegendem Kohlepapier bis zu 40 Kopien auf einmal herstellen kann. Jeder Beamte an den Vielfachumschaltern erhielt nun einen Abzug und schaltete sich dann in die Stromkreise von 12 Teilnehmern ein; zuerst wurden diese gleichzeitig angerufen, und etwa 30 Sekunden später las dann der Beamte die Nachricht den inzwischen an ihren Apparat getretenen Teilnehmern vor. In dieser Weise wurden in der Zeit zwischen 19 Uhr und Mitternacht 100 Bulletins ausgegeben.
Der Zeitgewinn gegenüber den telegrafisch verbreiteten Nachrichten betrug in jedem einzelnen Falle 15 – 30 Minuten; rechnet man dazu die Bequemlichkeit, daheimbleiben bleiben zu können, so ist es nicht zu verwundern, dass unter 10 000 Fernsprech-Teilnehmern, die Chicago zählt, nicht weniger als 1000, d. h, ein beträchtlicher Teil derjenigen Teilnehmer, welche um die angegebene Zeit sich noch in ihren Büros aufhalten oder in ihren Privatwohnungen Telefon haben, auf diese ›mündliche Zeitung‹ abonniert hatten.