DaseinsvorsorgeWasserwirtschaft

Die Kanalisationsfrage in Wiesbaden

Zentralblatt der Bauverwaltung • 4.3.1882

In Wiesbaden ist kaum die Rathaus- und Theaterbau-Frage durch die erfolgte Ausschreibung einer öffentlichen Konkurrenz für den Augenblick einigermaßen zur Ruhe gekommen, so taucht in den Tagesblättern und der öffentlichen Erörterung schon wieder ein neuer Gegenstand technischer Natur auf, zwar weniger künstlerisch aber für das kommunale wie private Interesse wahrscheinlich noch bedeutsamer, – nämlich die Abführung der Abwässer.

Die Verhältnisse Wiesbadens sind in dieser Beziehung eigentümlicher Art, und nicht uninteressant. Die Stadt verdankt bekanntlich ihren Hauptreiz der Lage in einem Talkessel des waldreichen Taunusgebirges, welcher nur einen Ausgang hat, nach Süden nach dem, Rhein zu; deshalb enden auch sämtliche drei Wiesbaden berührende Bahnen hier in Kopfstationen. Nun besitzt aber der Taunus außer dem Waldreichtum auch einen erfreulichen Wasserreichtum und sendet von demselben dem Wiesbadener Talkessel sechs hübsche Waldbäche zu: Wellritz, Faulbach, Schwarzbach, Dambach, Tennelbach, Rambach, welche alle sechs die Stadt durchströmen. Noch vor zwei Jahrzehnten trieben diese Bäche bei Wiesbaden, meist innerhalb der jetzigen Stadt, vielleicht zwei Dutzend Mühlen, welche seitdem bis auf wenige verschwunden sind. Die Bäche wurden allmählich überwölbt und als Hauptabführungskanäle benutzt, während zum Zweck der Wasserversorgung oberhalb der Stadt in den kleinen Tälchen der einzelnen Bäche ein Netz von Wasserzuleitungen angelegt wurde, meist tief in die Berge eindringende Stollen. Die überwölbten Bäche vereinigen sich au verschiedenen Punkten der Stadt, und verlassen dieselbe an ihrem unteren Ende als ein einziger Lauf unter dem Namen: Salzbach.

Seitdem die städtische Wasserleitung ihre jetzige Gestalt angenommen hat, seit Anfang der 1870er-Jahre, hat das Wasser-Quantum der Bäche oberhalb der Stadt durch die Wasserentnahme für die Leitung freilich nicht unerheblich abgenommen; indessen sind sie immer noch verhältnismäßig wasserreich, so dass es an einer kräftigen Spülung nicht fehlt, namentlich, da das Gefälle ein sehr bedeutendes ist. Bei heftigem Regen hört man an manchen Stellen der Straßen die unterirdischen Wasserläufe rauschen, und wer günstig wohnt, kann bei starken Gewitterschauern unter sich ein lautes Wassergetose vernehmen. Unterhalb der Stadt bekommt nun allerdings der Salzbach (auf nassauisch: ›die‹, wie in den meisten Gegenden) die seinem Gebiet entnommenen Wässer wieder, indessen leider in etwas veränderter Gestalt. Namentlich ist dies der Fall, seitdem infolge der Wasserleitung die Anlage von Wasserklosett allgemein geworden ist. Man sah sich nämlich genötigt, zur Unterstützung der Klosettanlagen sog. ›Oberläufe‹ (Überläufe) zu gestatten, d. h. man erlaubte auf Widerruf, unmittelbar unter der Abdeckung der Abortgruben der Wasserklosetts Seitenausläufe nach den Straßenkanälen anzulegen. Die Fäkalmasse gänzlich aus den Straßenkanälen abzuhalten, gelingt natürlich auf diese Weise nicht; namentlich ist auch eine missbräuchliche Benutzung der Oberläufe kaum hintanzuhalten, – wie der Inhalt des Salzbachs beweist.

Man half sich nun zunächst damit, dass man den Salzbach noch eine Strecke weit unterhalb der Stadt ebenfalls überwölbte. Damit befriedigte man allerdings die Wiesbadener so ziemlich, keineswegs aber die unteren Anwohner des Salzbachs, namentlich in Mosbach und ferner in Bieberich, wo der Salzbach in den Rhein mündet. Freilich sind bisher noch nahe unter der Mündung des Salzbachs Badeanstalten im Rhein in Benutzung geblieben, ein Beweis, dass die Sache gar so schlimm noch nicht ist. Indessen ist doch kürzlich in der Ministerialinstanz entschieden, wie die Blätter melden, dass die Abwässer Wiesbadens nicht mehr in den Rhein abgeführt werden sollen. Damit ist Wiesbaden vor dieselbe schwierige Aufgabe gestellt, welche in Frankfurt a. M. schon so viel Kopfzerbrechen veranlasst hat. Man sagt, dass diese Entscheidung erflossen sei, nachdem der Militärfiskus im Interesse der Unteroffiziersschule in Bieberich sich den Beschwerdeführern zugesellt habe.

Für die Stadt Wiesbaden liegt diese Sache offenbar recht schlimm, und haben die städtischen Behörden unter Zuziehung einer Fachautorität (Professor Baumeister aus Karlsruhe) bereits über die Sache verhandelt, ohne, wie man hört, bisher eine bestimmte Art der Lösung ins Auge gefasst zu haben. Man spricht von einem allgemeinen Verbot der ›Oberläufe‹ und Anlage von Klärbassins für die dann noch verbleibenden Hauswässer usw. Ob aber damit die Frage endgültig gelöst werden kann, ist sehr zweifelhaft. Auch wird das gänzliche Verbot der Oberläufe mit dem Vorhandensein einer reichlichen Wasserleitung und dem allgemeinen Gebrauch der Wasserklosetts schlecht zusammenstimmen. Jedenfalls ist die Sache von der schwerwiegendsten Bedeutung für den Säckel der Stadt sowohl als für ihren Ruf, der für sie Lebensfrage ist, und für das Befinden ihrer Bewohner.

Entnommen aus dem Buch:
Die ›Zeitreisen‹ knüpfen an die Tradition der Jahrbücher und Zeitschriften ›zur Bildung und Erbauung‹ aus dem 19. Jahrhundert an. Eine bunte Auswahl von Originalartikeln begleitet den authentischen und oft überraschend aktuellen Ausflug in die Geschichte.Kultur- und Technikgeschichte aus erster Hand, behutsam redigiert, in aktueller Rechtschreibung und reichhaltig illustriert.
  PDF-Leseprobe € 14,90 | 148 Seiten | ISBN: 978-3-7562-0128-0

• Auf epilog.de am 29. Mai 2017 veröffentlicht

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