VerkehrEisenbahn

Eiserne Pferde

Plauderei von Hans Dominik

Die Woche • 14.7.1906

Voraussichtliche Lesezeit rund 4 Minuten.

Wieder sind wir in der Reisezeit, in der jeder, der es vermag, der Stadt den Rücken kehrt und der Natur zustrebt. Auf den Bahnhöfen ein letztes Hasten und Drängen, und ein schöner Eckplatz im behaglichen D-Zugwagen ist glücklich erobert. Noch zehn Minuten bis zur Abfahrt. Da plötzlich ein leichter Stoß, der sich durch die lange Wagenreihe fortpflanzt. Die Lokomotive hat sich vor den Zug gesetzt. Mehr als tausend Pferdestärken sind bereit, ihn im Hundertkilometertempo auf eisernen Wegen fortzuführen. Das erste Lebenszeichen der Maschine! Die Bremsen fliegen krachend gegen die Räder. Gleich darauf hören wir zischend, als atme ein Riese, die Bremsluft aus den Bremszylindern entweichen.

Die Bremsprobe ist vorüber. Ein Pfiff des Zugführers, ein ungleich stärkerer der Lokomotive, und langsam setzt sich der Zug in Bewegung. Schneller und immer schneller wird das Tempo, und in einer zweistündigen ununterbrochenen Fahrt legen wir eine Entfernung zurück, für die die Extrapost vergangener Zeiten zwei Tage gebrauchte.

Dann ein kurzer Halt. Unser Pferd ist durstig und trinkt. Aber man kann es schon besser saufen nennen, denn etwa 20 m³ Wasser, verschwinden in seinem Bauch. Dann geht es weiter. Noch einmal zwei Stunden, und wir stehen am der brausenden Nordsee.

Keuchend und schnaufend hält unser Dampfross, als ob der fünfzig Meilen weite Lauf es außer Atem gebracht hätte. In Wirklichkeit sind es nur die Luftpumpen, die neue Bremsluft in die Behälter pressen. Aber darum wirkt die Erscheinung immer wieder dämonisch, mutet es immer wieder an, als verschnaufte sich ein Riese nach atemlosem Lauf.

Als Stephenson vor 80 Jahren seine berühmte Erstlingsmaschine ›The Rocket‹ laufen ließ, da versuchten die Postillione der Extraposten noch einen kleinen Wettlauf mit ihr. Sie glaubten, mit sechs lebendigen Pferdekräften den 25 Maschinenpferden der Rocket gleichkommen zu können, aber sie wurden schon damals geschlagen. Nach den weltberühmten Wettfahrten vom 6. – 12. Oktober 1829 war das Schicksal der Lokomotiven zum Guten entschieden, und die Nachkommenschaft der Rocket beträgt heute mehr als zweihunderttausend.

Aber nicht allein die Zahl ist gewachsen, sondern auch das einzelne Individuum. Aus den 25 PS wurden tausend bis fünfzehnhundert. Aus den zwei Achsen wurden fünf bis zehn, und das Gewicht vervielfachte sich. Und auch in Rassen und Arten spaltete sich der Stammbaum der Lokomotiven. Neben den Schnellzugmaschinen, die auf Zweimeter hohen Rädern Geschwindigkeiten von hundert und mehr Kilometern erreichen und unsere Züge in der Ebene befördern, finden wir die schweren Güterzugmaschinen, die einen hundertachsigen Zug langsam, aber mit unwiderstehlicher Gewalt hinter sich herschleppen. Neben den Riesen des Geschlechtes, den gewaltigen Vollbahnmaschinen von 22 und mehr Meter Länge und einigen 55 000 Kilogrammen Dienstgewicht, stehen die Zwerge, die kleinen beweglichen Baulokomotiven, die auf flüchtig verlegtem Feldbahngleis eine lange Reihe von Sandkarren schleppen. Neben den glatträdrigen Schnellläufern der Ebene finden wir die Vertreter eines weitgetriebenen Alpinismus: die krachsellustigen Zahnradbergbahnlokomotiven. Wo die glatte Sohle, der schimmernde Radkranz nicht mehr Halt findet, da nimmt der Bergsteiger die nägelbeschlagenen Schuhe, die Berglokomotive schlägt die Zähne ihres Triebrades in die Zahnlücken einer endlosen Zahnstange.

Und auch nach Lebensart und Lebensführung unterscheiden sich die Maschinen. Da haben wir die ältere einfache Zwillingsexpansionsmaschine. In zwei Zylinder schluckt sie den frischen Kesseldampf von zwölf Atmosphären Spannung, lässt ihn bis auf etwa drei Atmosphären im Zylinder expandieren, das heißt, sich ausdehnen, und jagt ihn dann nach getaner Arbeit mit mächtigem Puff ins Freie. Da finden wir ferner die wirtschaftlichere Compound- oder Verbundlokomotive, die den Dampf nicht so billigen Kaufes entwischen lässt. Sie schluckt den frischen Kesseldampf nur in den einen Zylinder, und nachdem er dort Arbeit geleistet hat, wird er in den zweiten größeren Zylinder geleitet und muss auch dort noch wirken, bis ihm endlich, nachdem seine Tatkraft, seine Spannung auf das Niedrigste gesunken ist, der Ausweg ins Freie gestattet wird.

Wir finden weiter die Gruppe der Heißdampflokomotiven, die nicht mit dem gewöhnlichen Kesseldampf, wie er sich im Dampfdom des Kessels sammelt, vorliebnehmen. Für die wird dieser sogenannte gesättigte Kesseldampf erst noch in besonderen Überhitzern, vom Kesselwasser getrennt, um 100 – 150° weiter erhitzt und gelangt dann in die Zylinder. Durch diese Überhitzung wird es vermieden, dass der expandierende Dampf in den Zylindern Wasser ausscheidet. Seine Arbeit wird wirtschaftlicher, und die Kohlenwärme, die man dem Überhitzer zuführt, ist gut angelegt. In der Tat ist es nur durch die Compoundierung sowohl wie durch die Dampfüberhitzung gelungen, die Wirtschaftlichkeit der Maschinen erheblich zu verbessern. Während Stephenson einst pro PS und Stunde noch 4 – 5 kg Kohle gebrauchte, kommen moderne und wirtschaftliche Lokomotiven mit 1 – 0,75 kg pro PS und Stunde aus. Sie erreichen zwar nicht die Ökonomie der großen Schiffsmaschinen, die mit 0,5 kg Kohle auskommen, aber sie leisten immerhin, was unter den beschränkten Raumverhältnissen des normalen Bahnprofils möglich ist.

Im Übrigen sind unsere Techniker selbst mit ihren gegenwärtigen Leistungen noch nicht zufrieden. Der Ruhm der beiden elektrischen 3000 PS-Riesenlokomotiven, die auf der Strecke Berlin – Zossen 210 km/h fuhren, lässt sie nicht schlafen.

Allgemein bekanntgeworden sind ja die deutschen Riesendampflokomotiven der letzten Weltausstellung von St. Louis, die auch über 2000 PS entwickelten und mit mehr als zwei Zylindern arbeiteten. Die Hoffnung, mit diesen oder ähnlichen Dampfgiganten auf glatten Strecken, wie zum Beispiel der Linie Berlin – Hamburg, Reisegeschwindigkeiten von erheblich mehr als 100 km/h zu erreichen, ist auch heute noch nicht aufgegeben worden. Vorläufig bedeuten 90 km/h, d. h. 25 m in der Sekunde, die normale Leistung unserer Schnellzugmaschinen, und mit welcher Zuverlässigkeit sie ihre Arbeit bei jedem Wind und Wetter verrichten, davon zeugen unsere Fahrpläne, die auf 100 Meilen lange Strecken auf die Minute eingehalten werden. Davon zeugt unser ganzer Eisenbahndienst, in dem Zugverspätungen zu den seltenen Ausnahmen gehören.

Freilich ist unsere Eisenbahnbautechnik eine außerordentlich solide und schwere. Beträgt doch, wie bereits vorstehend erwähnt, das Gewicht einer großen Schnellzuglokomotive etwa 55 000 kg während ein Rennautomobil, das auf schienenlosen Wegen die gleichen Geschwindigkeiten erreicht, nur etwa 1000 kg wiegt. Es fehlt daher in unserm automobilistischen Zeitalter nicht an Stimmen, die behaupten, dass die Eisenbahntechnik auf Grund der automobiltechnischen Erfahrungen völlig umlernen müsse. Wie sich die Dinge weiter entwickeln werden, kann heute natürlich noch niemand voraussagen. So viel ist gewiss: Einstweilen bleibt die schwere, aber leistungsfähige Dampflokomotive der treuste und zugleich zuverlässigste Freund aller Reisenden.

Entnommen aus dem Buch:
Der Ingenieur, Journalist und Schriftsteller Hans Dominik (1872 – 1945) gehört zu den erfolgreichsten Science-Fiction-Autoren Deutschlands. Neben zahlreichen Romanen und Kurzgeschichten verfasste er vor allem auch populärwissenschaftliche Beiträge für Zeitschriften und Jahrbücher. Für dieses Buch wurden seine verkehrstechnischen Plaudereien und Betrachtungen zusammengetragen und vermitteln dem Leser einen unverfälschten Blick auf die Verkehrsgeschichte des jungen 20. Jahrhunderts.
  PDF-Leseprobe € 12,90 | 92 Seiten | ISBN: 978-3-7534-7686-5

• Auf epilog.de am 24. April 2024 veröffentlicht

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