VerkehrEisenbahn

Der Eisenbahnknotenpunkt
Olten in der Schweiz

Die Gartenlaube • 1863

Voraussichtliche Lesezeit rund 5 Minuten.

Der langsam und unwiderstehlich, gleich einer Naturkraft wirkende Einfluss der Eisenbahnen, der alles von seiner Stelle rückt, aus Einöden Marktplätze und aus bevölkerten Tälern Einöden macht, Dörfer in Städte und Städte in Dörfer umwandelt, macht sich auch in der Schweiz fühlbar. Gestatten Sie mir, diesen bereits trivial gewordenen Satz durch ein Beispiel aus Hunderten zu erläutern.

Olten, am Südfuß des Jura und an der Aar gelegen, war vor einem Jahrzehnt nicht mehr noch weniger als ein kleines Landstädtchen. Zwar zählte es sich schon damals keineswegs zu den geringsten Orten, nicht sowohl deshalb, weil es schon zur Römerzeit bestanden hatte, wo es Ultinum hieß, sondern vielmehr wegen des stets bewährten freisinnigen, vielleicht sogar etwas revolutionären Geistes seiner Einwohnerschaft, und dann, weil es einige Namen von gutem Klang, den schweizerischen Bundespräsidenten Munzinger, den genialen Maler Disteli, zu seinen Bürgern zählte. Dennoch war Olten mit seinen 1600 Einwohnern nichts Anderes als ein Landstädtchen, wo jedes Jahr ein paar besuchte Jahrmärkte abgehalten wurden und täglich einige Postwagen die Pferde wechselten.

Da kamen die Eisenbahnen. Der Bau des Hauensteintunnels, schauerlichen Angedenkens, wurde begonnen und zu Ende geführt. Durch die innersten Eingeweide des Jura rasselten die Lokomotiven und verbanden Basel mit der inneren Schweiz. Von Olten, welches an die Ausmündung des Tunnels zu stehen kam, breiteten sich die Schienenwege fächerförmig aus: östlich nach Zürich, St. Gallen und den Bodensee, südlich nach Luzern und den Vierwaldstättersee, westlich nach der Bundesstadt Bern, nach Biel und den Seen von Neuchâtel und Genf. Das Landstädtchen war zu einem Eisenbahnknotenpunkt geworden. Als nächste Folge entstand ein weitläufiger Bahnhof, in welchem stündlich lange Wagenzüge ein- und ausfahren, – lange und breite Hallen von Ein- und Aussteigenden wimmelnd, – endlich eine geräumige Eisenbahnwirtschaft, wo hungrige und durstige Reisende in ungeduldiger Hast die Bedürfnisse ihres Magens und Gaumens befriedigen. Dahin kommen nun Tag für Tag die alten Bürger von Olten und lassen die Passagiere aus aller Herren Länder, die hier zum Wagenwechsel gezwungen sind, Musterung passieren, lauschen der babylonischen Sprachverwirrung, vergleichen das Einst und Jetzt und freuen sich, dass republikanische Tugend doch einmal ihren Lohn erhalten und der glückliche Zufall gerade sie betroffen habe.

OltenAnsicht von Olten.

So viel steht fest, dass so ziemlich alles, was die Schweiz bereist, durch den Bahnhof von Olten passieren und dort aussteigen muss. Mögen die Touristen vom Genfersee zum Bodensee, vom Gotthard zum Rhein, vom Rigi zum Weißenstein reisen, mögen sie von Paris oder München oder London herkommen – den Bahnhof von Olten müssen sie mindestens einmal berühren. Da ist es dann in Wahrheit kein schlechter Spaß, die Leute, die sich auf den Trottoirs und in den Erfrischungssälen drängen, gleich den Bildern einer laterna magica an sich vorbeiziehen zu lassen. Auch fehlt es nicht an Gelegenheit, hie und da eine interessante Persönlichkeit und europäische Berühmtheit von Angesicht zu Angesicht zu sehen, wie z. B. den Grafen Chambord, da er an den Legitimistenkongress nach Luzern fuhr, oder die arme Königin von Neapel, als sie ihrem Gatten aus Rom entflohen.

Als Eisenbahnknotenpunkt ist Olten dann auch zum natürlichen Stelldichein und Zusammenkunftsort schweizerischer Vereine und Versammlungen geworden. Universitätsprofessoren und Zündhölzchenfabrikanten, Tierärzte und Blechmusiker, Sänger, Landwirte, Naturforscher, Pfarrer, Apotheker und Schullehrer halten hier ihre Beratungen und Bankette. Genaue statistische Notizen, wie viel in Olten fürs Vaterland gegessen, getrunken und gesprochen wird, würden wahrscheinlich die Welt in Erstaunen setzen.

Die Eisenbahn als freundliches Christkindlein hat aber den Oltnern nebst ihrem wimmelnden Bahnhof noch eine zweite Gabe beschert, eine Maschinenfabrik oder ›Zentralreparaturwerkstätte‹. Es ist dies eine Heilanstalt für sämtliche unpässlich gewordene Lokomotiven, ein Lazarett für alle im Dienst beschädigten und verletzten Waggons der schweizerischen Zentralbahn; es werden darin auch außerdem neue Lokomotiven in die Welt gesetzt, eiserne Brücken geschmiedet, Drehscheiben konstruiert, kurz alles dasjenige verfertigt, was – aus Metall oder Holz bestehend – zum Betrieb einer Eisenbahn gehört. Diese mechanische Werkstätte beschäftigt heute schon nahe an 400 Arbeiter, durch welche die Bevölkerung des Städtchens um ein ganzes Fünftel vermehrt wurde. Die nächste Folge der Errichtung dieser industriellen Anstalt gab sich eigentümlicherweise auf kirchlichem Boden kund. Da viele Arbeiter der reformierten Konfession angehören, so wurde aus lauter freiwilligen Beiträgen im katholischen Olten eine protestantische Kirche erbaut, und heute funktioniert daselbst in bester Eintracht mit dem katholischen Pfarrer und dem nahen Kapuzinerkloster ein protestantischer Geistlicher.

ZentralreparaturwerkstätteDie ›Zentralreparaturwerkstätte‹ in Olten.

Die dicht am Bahnhof liegende ›Zentralreparaturwerkstätte‹ ist ein eigentlicher Bienenkorb, in welchem die Hobelmaschinen, die Bohrmaschinen, die Sägemaschinen, von Dampfkraft getrieben, in ununterbrochener Tätigkeit surren und schwirren. Die Werkstätte steht unter der vortrefflichen Leitung des Direktors Riggenbach, der für die Arbeiterkolonie mehr Vater als Meister ist. Jedes Jahr erhält die ganze Mannschaft einen Tag Ferien, an welchem sie auf Kosten der Zentralbahngesellschaft und unter Anführung des Direktors eine Lustfahrt macht. Es ist eine wahre Freude, die kräftigen Gestalten der Schmiede und Holzarbeiter an diesem Feiertag zu beobachten, wie sie sauber herausgeputzt in anständiger Lust sich bewegen.

Für Tage der Not sorgt eine Kranken- und Hilfskasse, welche zum Teil aus den Beiträgen der Arbeiter, zum Teil aus den Zuschüssen der Gesellschaft gebildet ist. Dies nennen wir Sozialismus der rechten Art.

Die Maschinenwerkstätte, schon jetzt in schönster Blüte, scheint einer noch bedeutenderen Zukunft entgegen zu gehen. Schon dehnt sie ihre Wirksamkeit über die Bedürfnisse der Zentralbahn aus; sie konstruiert schon jetzt für andere Bahngesellschaften eiserne Brücken und lieferte kürzlich unter anderem für die Eidgenossenschaft 36 eiserne Lafetten nach der eigenen Erfindung des Direktors Riggenbach, deren Modell an der Londoner Weltausstellung die Aufmerksamkeit und den Beifall der Sachkenner aus sich zog.

Der Eisenbahntourist, der von Basel herkommend nicht ohne einigen leisen Schauder den langen Tunnel passiert hat, wird über der prachtvollen Fernsicht auf das Aartal und die Alpen, die sich unversehens wie durch Zauber vor ihm öffnet, die langen Reihen von Gebäuden mit den roten Ziegel- und grauen Schieferdächern, die zu seinen Füßen liegen, kaum beachten. Aber kommt er vielleicht mit einem Abendzug daher und sieht die hundert Gasflammen tief unter sich und fragt, was das wohl sei, so wird er die Antwort erhalten: »Das ist der Bahnhof von Olten mit der Maschinenwerkstätte.« Die freundlichen neuen Häuser ringsherum und das neue Kirchlein in der Nähe, das Alles ist Neu-Ultinum, der Eisenbahnknotenpunkt.

A. H.

• Auf epilog.de am 16. April 2023 veröffentlicht

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