VerkehrEisenbahn

Der Einschienenwagen in Berlin

Die Woche • 20.11.1909

Voraussichtliche Lesezeit rund 6 Minuten.

Als vor einigen Monaten eine Denkschrift von August Scherl über  ein neues Schnellbahnsystem veröffentlicht wurde und als erste Forderung und Notwendigkeit für einen zukünftigen vollkommenen Schnellverkehr ein einschieniges Fahrzeug verlangte, da erschien ein solches Erheischen so manchem Leser recht wunderbar. Und als die Denkschrift weiter die bedeutsame Mitteilung brachte, dass ein vollkommenes, durch Kreiselapparate stabilisiertes Fahrzeug bereits in den Werkstätten des Herausgebers glücklich vollendet sei, da wurden Zweifel laut von Laien und auch von Fachleuten. Man war nicht geneigt, jener kurzen Mitteilung Glauben zu schenken.

Steuerstand des GyrowagensDer Steuerstand des Gyrowagens.

Der Herausgeber der Denkschrift hielt es daher für geboten, jenes einspurige Fahrzeug, den einschienigen Gyrowagen, der breitesten Öffentlichkeit zu zeigen, und er führte das Fahrzeug vom 10. bis 15. November in den Ausstellungshallen am Zoologischen Garten vor. Unsere Bilder wurden anlässlich jener Vorführung aufgenommen und zeigen den Gyrowagen im ganzen wie auch in den einzelnen Details. Nachdem etwa vierzigtausend Besucher das Fahrzeug hier gesehen, nachdem die Spitzen der Armee und der Verwaltung selbst darin gefahren sind, wird man nun nicht mehr behaupten können, dass die einschienige Kreiselbahn eine Chimäre, eine Utopie sei.

Bevor wir nun aber auf die Berliner Vorführungen näher eingehen, mag zuerst ein wenig über das Einschienensystem im Allgemeinen gesagt sein. Ein Unbefangener, der die Leistungen unserer heutigen zweischienigen Verkehrsmittel, der Eisenbahnen und Automobile, kennt, wird zweifellos zunächst die Frage stellen, warum denn die nicht ganz einfachen Apparate der Einschienenbahn notwendig seien, warum man nicht viel lieber bei der zweiten Schiene bleibt und solche kostspieligen Umwege meidet. Die Antwort ist leicht gegeben. Wir wissen heute und ganz besonders nach den Zossener Schnellbahnversuchen, dass ein wirtschaftlicher Schnellverkehr mit einer Geschwindigkeit von 200 km/h undurchführbar ist. Beinahe nach jeder Fahrt muss man den Unterbau wieder revidieren, muss man Schwellen unterstopfen und die Schienen gegeneinander ausrichten und in die gleiche Niveaulage bringen. Etwas derartiges ist wohl bei Versuchsfahrten möglich, bei denen die Wirtschaftlichkeit keine Rolle spielt, aber es verbietet sich in dem Augenblick, da man einen wirtschaftlichen Betrieb ins Auge fasst. So kommt man von der Forderung eines wirtschaftlichen Schnellbahnbetriebs notwendigerweise zur Einschienenbahn. Untersucht man nun aber weiter die Mittel, die einen Verkehr auf der einen Schiene gestatten, die den Wagen auf der einen Schiene sicher stabilisieren, so bleibt als einzig brauchbares der Kreisel übrig. Die richtende Kraft des schnell rotierenden Kreisels ist das Mittel, den Wagen auf einer Schiene stabil zu führen.

Eisenbahnminister von BreitenbachEisenbahnminister von Breitenbach, der erste Passagier des Gyrowagens.
Passagiere des GyrowagensFrau v. Bethmann Hollweg, die Gemahlin des Reichskanzlers, und Gen. Maj. v. Plüskow als Passagiere des Gyrowagens.

An dem ersten Tage der Vorführungen sammelten sich die hervorragendsten Führer Deutschlands auf technischem und wirtschaftlichem, auf militärischem und dem Verwaltungsgebiet in der Ausstellungshalle, und nach einem einleitenden Vortrag rollte das geheimnisvolle Fahrzeug der Zukunft, der einschienige Gyrowagen, in den Raum. Staunend zuerst beobachteten die Anwesenden, wie der Wagen auf seiner Schiene dahinglitt, wie er sicher und in immer schnellerem Tempo Runde für Runde absolvierte. Und mit dem Sehen wuchs das Vertrauen. Was man zuerst für eine physikalische Spielerei, allenfalls für einen originellen Versuch auch anzusehen geneigt war, das betrachtete man jetzt als ein ernsthaftes Verkehrsmittel. Als erster Passagier bestieg der preußische Minister der öffentlichen Arbeiten Exzellenz von Breitenbach den Gyrowagen und fuhr in ihm einige Runden. Kein schlechtes Zeichen für die Zukunft des neuen Wagens. Drehuntergestell des GyrowagensEin Drehuntergestell des Gyrowagens. Noch zahlreiche andere Passagiere von Rang und Namen führte der Gyrowagen an jenem 10. November durch die Bahn, und wir dürfen wohl hoffen, dass dieser Tag dereinst in der Geschichte der Verkehrstechnik eine ähnliche Bedeutung erlangen wird wie der Junitag des Jahres 1879, an dem die erste elektrische Bahn der Welt, ebenfalls eine deutsche Erfindung, im Landesausstellungspark zu Berlin vorgeführt wurde. Aber wir hoffen weiter, dass es im übrigen mit der Gyrobahn nicht so gehen möge wie mit der elektrischen Bahn. Damals musste die deutsche Erfindung erst nach Amerika auswandern, um von dort als amerikanisches Erzeugnis etwa zehn Jahre später zurückzukehren. Wir hoffen vielmehr, dass diesmal die deutsche Erfindung sofort in Deutschland Wurzel fassen möge, und das um so mehr, als andere Länder, insbesondere England, die Wichtigkeit des Problems voll begriffen haben und rastlos an seiner Weiterbildung arbeiten.

Unsere Bilder veranschaulichen den Wagen in der Halle und zeigen jene wohlgelungenen Vorführungen und geben einen guten Überblick über das rege Leben und Treiben in der Halle während der fünf bedeutungsvollen Novembertage.

Entnommen aus dem Buch:

Neuerscheinung

Die Aufbruchstimmung und der technische Fortschritt im 19. Jahrhundert führten zu immer neuen Erfindungen, die den Verkehr beschleunigen und die Antriebe optimieren sollten. Dabei wurde oft das System von mit Dampflokomotiven bespannten Zügen auf zwei Schienen grundlegend in Frage gestellt. Manche dieser Ideen sind heute wieder aktuell, und so lohnt sich ein unverfälschter Blick auf dieses interessante Kapitel der Verkehrsgeschichte.
  PDF-Leseprobe € 18,90 | 148 Seiten | ISBN: 9-783-7583-7184-4

• Auf epilog.de am 22. Januar 2023 veröffentlicht

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