DaseinsvorsorgeEnergieversorgung

Der Niagara im Dienst der Industrie

Die Gartenlaube • 1887

In Amerika fehlt es nicht an unternehmenden Männern, welche furchtbare Abgründe überbrücken, himmelhohe Alpenketten durchbohren, die tosendsten Wasserfälle bändigen und gewinnbringenden Bestrebungen dienstbar machen. So sind die berühmten St. Anthonyfälle, welche der jugendliche Mississippi bei Minneapolis bildet, durch gewaltige Werke auf einer inmitten des Stroms gelegenen Insel nutzbar gemacht, und zahlreiche kleine und große Industrie-Anstalten beuten seine in alle Teile der Stadt geleitete Kraft aus, welche derjenigen von 12 000 Pferden gleich geachtet wird.

Niagarafälle

Mannigfach sind die Vorschläge gewesen, wie man in gleicher Weise auch dem Stromriesen Amerikas, den gewaltigen Niagarafällen, beikommen könne. An abenteuerlichsten Projekten und Zukunftsbildern hat es nicht gefehlt: Haben doch schon einzelne Projektemacher verlauten lassen, dass sie mit der aus der Kraft der Fälle erzielten Elektrizität die viele, viele Meilen entfernt gelegene Riesenstadt New York erleuchten wollen.

Dass die Stromfälle in solcher Weise unterjocht werden können, halten wir kaum für möglich und noch weniger für wünschenswert, da die erforderlichen Anlagen und Bauten zweifelsohne die ursprüngliche Großartigkeit des Schauspiels, welches die Niagarafälle bieten, vernichten müssten.

Die Lösung des Projektes scheint jedoch in glücklichster Weise durch einen neueren Entwurf gegeben zu sein. Nicht der Niagarafall, sondern der Niagarastrom vor Bildung der Fälle soll dienstbar gemacht werden, und dies kann in der Weise erzielt werden, dass man weit oberhalb der Fälle einen Teil der Wassermassen in einen stark abfallenden, unterirdischen Tunnel leitet, dessen Mündung unterhalb der Fälle zutage tritt. Somit wäre die Ausbeutung der Wasserkraft des Niagara möglich, ohne dass seiner Schönheit auch nur der geringste Abbruch geschieht. Der Abgang der seitwärts geleiteten Wassermengen würde nicht im mindesten auffällig sein, da, wie jeder Besucher der Fälle weiß, die Massen des Niagarastromes so bedeutende sind, dass der Ausfall nicht größer sein würde, als wenn man einen Becher voll Wassers einem enormen Reservoir entnähme.

Und so können wir dem allzeit aufwärts strebenden amerikanischen Volk nur wünschen, dass es auch dieses große Projekt mit demselben Geschick zur Ausführung bringen möge, mit dem es zum Staunen der alten Welt bereits so viele zu Ende geführt hat.

• Auf epilog.de am 30. September 2016 veröffentlicht

Reklame