FeuilletonErzählungen

Zu Weihnachten in New York

Von Henry F. Urban

Die Woche • 23.12.1911

Voraussichtliche Lesezeit rund 9 Minuten.

Das waren nun seine ersten Weihnachten in New York – in der Fremde. Wenn er abends aus seinem Bankgeschäft kam, bummelte er durch die Straßen, um das weihnachtliche Leben und Treiben zu beobachten. Manches erinnerte ihn an Berlin: das milde Wetter, die kleinen Buden und die lärmenden Händler mit allerlei grellfarbigem Weihnachtstand hier und da in einer Geschäftsstraße, die Schaufenster des Warenhauses mit lustigen Darstellungen von buntgekleideten Puppen und allerlei Getier, die das Entzücken der Kinder bildeten. Und wahrhaftig, auch an grünen Tannen fehlte es nicht, die vor den Blumen- oder Grünzeugläden wie Soldaten in Reih und Glied standen. Auch der Weihnachtsmann, der überall in den Schaufenstern stand, hatte das anheimelnde Aussehen des deutschen Weihnachtsmanns: immer war es ein wohlbeleibter alter Herr mit freundlichem rotem Gesicht und weißem Bart, in einem braunen Rock mit weißer Pelzfütterung und warmen Stulpenstiefeln; die Hände hatte er über dem Leib in die Ärmel gesteckt, und zwischen Arm und Pelz hielt er immer ein grünes Tannenbäumchen. Manchmal trug er auch den berühmten Sack voll von geheimnisvollen Geschenken auf dem Rücken und war gerade im Begriff, damit in einen Schornstein zu steigen. Sicherlich das war der echte deutsche Weihnachtsmann, kein amerikanischer, trotzdem er den seltsamen Namen Santa Klaus oder manchmal auch Kris Kringl führte. In den tausend Bilderbüchern für Kinder war er gewöhnlich in einem Schlitten sitzend dargestellt, vor den sechs oder acht Paar weiße Hirsche gespannt waren. Neuartig war Robert die emsige Tätigkeit der Heilsarmee zum Besten der Armen. Überall an den belebtesten Straßenecken stand ein Soldat oder eine Soldatin der Heilsarmee neben einem hölzernen Gestell aus drei Stangen, von denen an einer Kette ein großer, breiter Topf herabhing. Eine Tafel besagte: ›Keep the pot boiling!‹ (Sorgt, dass der Topf weiter kocht!) Das hieß: Tut euer Scherflein hinein für die Armen, die die Heilsarmee bescheren will. Dazu läutete der Heilssoldat oder die Heilssoldatin ununterbrochen mit einem Glöckchen, um die Vorübergehenden auf den Topf aufmerksam zu machen. Robert fand das sehr drollig – besonders, dass der Vorsicht halber über den Topf ein Drahtgeflecht gespannt war, so dass keine unbefugte Hand hineinlangen konnte. Eine andere Wohltätigkeitsgesellschaft hatte an den Straßenecken als Weihnachtsmann kostümierte Leute aufgestellt, neben einem roten Schornstein, der die mildtätigen Gaben aufnehmen sollte. Überhaupt schien es Robert, als ob die berühmte amerikanische Freude am Wohltun gerade zu Weihnachten ihre üppigsten Blüten treibe. Allenthalben wurde emsig daran gearbeitet, dass auch die Armen zu Weihnachten nicht leer ausgingen. Er hatte früher immer geglaubt, dass es arme Leute im Dollarland überhaupt nicht gäbe.

Robert wohnte bei einer Familie White, bei der er durch besondere Empfehlung Unterkunft gefunden hatte. Denn so gedachte er am schnellsten die englische Sprache zu erlernen. Das waren reizende, feine Leute – die Whites. Papa White war einer der oberen Angestellten bei Edison, seine Frau verstand sogar etwas Deutsch, da sie von eingewanderten Deutschen abstammte. Dann war da noch ein kleines Schwesterchen namens Gertie und ein jüngeres Brüderchen namens Dan. Aber die Hauptperson war für Robert die älteste Tochter, die siebzehnjährige, schwarzäugige Olivia. Es hatte sich ganz von selbst gemacht, dass Olivia eine Art Mentorenstelle bei Robert übernommen hatte. Sie war mit ihren siebzehn Jahren auffallend klug und gebildet, dabei von einer bestrickenden Munterkeit und einer Bescheidenheit, die Robert sonst nicht im Übermaß bei jungen Amerikanerinnen, besonders den New Yorkerinnen, gefunden hatte. Frau White behauptete, Olivia habe das von ihrer deutschen Großmama. Dafür, dass Olivia ihm amerikanische Kenntnisse aller Art beibrachte, lehrte Robert sie Deutsch sprechen. Von Olivia erfuhr er nun, während sie eines Abends bei Tisch saßen, dass der absonderliche Santa Klaus zu Weihnachten mit Vorliebe durch den Schornstein ins Haus komme, und dass er wirklich deutschen Ursprungs sei. Sein Name war nichts als eine fürchterliche sprachliche Verstümmelung des alten Sankt Nikolas, des Erzbischofs von Myra und Beschützers der Kinder, dessen Todestag (6. Dezember) noch jetzt am Rhein, in der Schweiz und in Holland gefeiert wird, und der sich im Lauf der Zeit in den deutschen Weihnachtsmann und Kinderfreund verwandelte.

»Und Kris Kringl?«, fragte Robert. »Auch das klingt wie eine Verstümmelung.«

»Ist es auch«, erwiderte Olivia lächelnd. »Es ist eine Verstümmelung des deutschen Wortes Christkind oder Christkindl.«

Darüber lachte Robert hell auf.

»Zu drollig«, fuhr er dann fort, »dass auch der Santa Klaus und Kris Kringl wieder den Stempel »Made in Germany« tragen. Offenbar ist dann auch unser herrlicher Weihnachtsbaum erst von Deutschland nach Amerika gekommen?«

Auch das bestätigte Olivia.

»Aber haben Sie denn schon Ihren Weihnachtsbrief oder Ihr Weihnachtspaket für Ihre Familie in Berlin fertig?«, fragte Frau White. »Der Weihnachtsdampfer geht am Sonnabend.«

Robert gestand, dass er seiner Tante in Berlin eine kleine Summe von seinem Ersparten geschickt habe, mit der Weisung, dafür den Eltern sowie seinen beiden Brüdern etwas zu kaufen. Einen bestimmten Dampfer habe er nicht gewählt. So erzählte ihm denn Herr White, dass der letzte Dampfer, der Post und Pakete rechtzeitig zu Weihnachten nach Europa bringe, der Weihnachtsdampfer heiße. Und er fügte hinzu, dass die Zeitungen stets die Anzahl der Briefsäcke und der Beträge der Postanweisungen veröffentlichten, die mit dem Weihnachtsdampfer und den übrigen Dampfern zu Weihnachten nach Europa gingen. Riesige Summen Geldes, versicherte Herr White, würden da allemal nach drüben gesandt, besonders nach England, nach Irland, nach Deutschland, nach Italien. Das leuchtete Robert ein. Sooft er in den nächsten Tagen auf das Postamt kam, traf er vor dem Schalter für Postanweisungen eine endlose Reihe von Menschen – Deutsche, Irländer, Italiener, österreichische und russische Juden, Skandinavier in buntem Durcheinander, die es sich nicht nehmen ließen, ihren Angehörigen daheim eine größere oder kleinere Weihnachtsfreude in bar zu bereiten. Denn zur Weihnachtszeit zumal wanderten ihre Gedanken in die alte Heimat zu denen, die sie zurückgelassen hatten. Ging es ihm nicht genau so? Wenn er abends im Bett lag, dachte er an seine Lieben in Berlin, dachte er an seine gute Mutter, die nun gewiss wieder unermüdlich von einem Warenhaus zum anderen lief. Ob sie auch für ihn etwas kaufte? Er hatte ihr geschrieben, es nicht zu tun, wegen der Zollscherereien. Aber vielleicht ließ sie sich es doch nicht nehmen.

Je näher der Heilige Abend rückte, desto melancholischer wurde Robert zumute, trotzdem er von der Familie White mit so großer Liebenswürdigkeit zu ihrem Weihnachtsfest eingeladen worden war. Vielleicht gerade deswegen. Er hätte es lieber in einer deutschen Familie auf echt deutsche Weise gefeiert. Bei Whites feierten sie es nach amerikanischer Sitte in der Frühe des ersten Feiertags. Das wollte Robert gar nicht in den Sinn. Zum Glück ließen ihm Olivia und vor allem Gertie und Dan nicht viel Zeit, daheim sich in Weihnachtsmelancholie zu versenken. Ob er wollte oder nicht, er musste an ihren Vorbereitungen für das Fest Anteil nehmen. Er musste sich für die schöne Tischdecke begeistern, die Olivia mit bunter Seide für die Mama stickte. Er musste sich von Gertie und Dan aufgeregt erzählen lassen, was sie in den Warenhäusern gesehen hatten, und was sie von Santa Klaus zu Weihnachten erwarteten. Dan hatte sogar, wie er Robert anvertraute, einen besonderen Brief an Santa Klaus geschrieben mit seinen Wünschen darin und ihn Olivia zur Besorgung übergeben. Olivia hatte ihm versichert, dass sie ihn sofort in den Briefkasten gesteckt habe. Sie teilte das lachend Robert mit und fügte hinzu, dass die Post derartige Kinderbriefe zu Weihnachten in großer Anzahl erhalte.

So war der 24. Dezember herangekommen. Es war zum ersten Mal etwas winterlich und weihnachtlich, denn es hatte ein wenig Schnee gegeben. Robert hatte einen ganz unzweifelhaften Weihnachtskatzenjammer schon von frühmorgens an. Das stand bei ihm selber fest. Sein erster Heiligabend, den er nicht im Kreis der Seinen feiern konnte! Das war keine Kleinigkeit! Im obersten Stockwerk des Wolkenkratzers, in dem das Bankgeschäft lag, befand sich ein elegantes Restaurant für die Angestellten. Hier aß Robert täglich seinen Lunch in Gesellschaft der amerikanischen Kameraden, und es ging immer sehr lustig dabei her. Aber heute schmeckte ihm das Essen gar nicht. Und als die Uhr 2 schlug, verspürte er das wie die Schläge eines Hammers gegen sein Herz. Er wusste, dass es nun in Berlin 8 Uhr abends war, und um Punkt 8 Uhr nach uralter Familiensitte war Bescherung. Er hätte das für sein Leben gern den beiden Kameraden am Tisch gesagt, nur um es sich von der Seele herunterzureden. Doch die verstanden ihn wohl kaum. Aber die beiden Schläge bedeuteten zugleich die Wiederaufnahme der Arbeit. So goss er sein Tässchen Kaffee herunter und fuhr mit dem Lift erdabwärts in sein Büro.

Eine Beobachtung schien ihm unumstößlich: hier fehlte doch die echte deutsche Weihnachtsstimmung, trotzdem das Weihnachtliche äußerlich deutlich genug zum Ausdruck kam. Innerlich fehlte da etwas – das Gemütvolle. Es war mehr wie ein Wohltätigkeitsbasar allerriesigsten Stils. Nach Geschäftsschluss schlenderte er den Broadway und die 5. Avenue hinauf nach Hause. Überall wimmelte es von geschäftigen Menschen, die mit Paketen dahineilten. Um 7 Uhr stellte er wieder fest, dass daheim nun Mitternacht vorüber sei und alles schon in den Betten liege. Bei den Whites verlor er seine trübe Stimmung wieder. Gertie und Dan nahmen ihn nach dem Essen in den Salon, wo der noch kahle Tannenbaum auf dem Fußboden stand, und zeigten ihm die Strümpfe, die sie am Kamin aufgehängt hatten. Denn Santa Klaus kam nach alter Überlieferung in der Nacht, wenn die Kinder schliefen, durch den Schornstein und den Kamin und stopfte seine Gaben in die Strümpfe, die die Kinder am Kamin aufgehängt hatten. Dan, der ein geriebener kleiner Yankee war, hatte sich einen Strumpf von Mama geben lassen, weil da mehr hineinging. Das vertraute er kichernd Robert an. Der fand das eine sehr hübsche Sitte. Aber Olivia belehrte ihn, dass auch sie »von drüben stamme«, dass sie noch heute in Holland und am Niederrhein geübt werde. Als die Kinder zu Bett gebracht waren, spielte dann Papa White den Santa Klaus und füllte die Strümpfe mit allerlei Naschwerk und kleinen Geschenken. Dann gingen sie daran, den Baum zu schmücken und mit Lichtern zu versehen. Olivia bat Robert, mitzuhelfen, und er sagte mit Vergnügen zu.

Als alles fertig war, musste er Mama White versprechen, am nächsten Morgen um 7 Uhr zur Bescherung fertig zu sein. Robert ging daher früher zu Bett als sonst. Sobald er im Bett lag, wanderten seine Gedanken wieder in die Heimat, in die behagliche altmodische Wohnung in der altmodischen Klopstockstraße, wo sie nun schon 30 Jahre wohnten, und aus der der altmodische Papa um keinen Preis ausziehen wollte. Und ohne es zu merken, schlief er ein und hatte einen wunderschönen Traum. Er war wieder bei den Eltern, und in dem blauen Zimmer stand wie immer der strahlende Baum, und Papa saß am Klavier und spielte ›Stille Nacht, Heilige Nacht‹, und sie alle sangen feierlich mit. Und dann war Bescherung. Die dicke Anna, das Mädchen für alles, war wieder eitel entzücken und erklärte wie immer mit blödem Lächeln: »Nee, aber der Herr Jeheimrat und die Frau Jeheimrat haben sich doch zu sehr anjestrengt!« Und roch es von der Küche her nicht nach Karpfen in Bier?

Als das Dienstmädchen an die Tür klopfte, war es halb 7 Uhr früh. Nun hieß es aufstehen und sich fertigmachen. Robert dachte an seinen Traum, und eine stille Freude erfüllte ihn. Als er den Salon betrat, fand er die Whites schon versammelt im fröhlichen Schein der Weihnachtskerzen. Dan und Gertie zeigten ihm beseligt die Schätze, die in den Strümpfen gesteckt hatten. »Merry Christmas!« sagte Frau White und reichte ihm freundlich die Hand. »Merry Christmas!« ging es von einem zum anderen. Aber es war kein weißgedeckter Tisch da, keine Teller mit Nüssen und Marzipan. Und niemand stimmte ein Weihnachtslied an. Die Geschenke lagen nach amerikanischer Sitte auf dem Diwan und auf den Sesseln herum, alle in ihrer Verpackung, mit dem Namen der Empfänger darauf. Das gab nun ein lustiges Austeilen nach rechts und links. Aber wenn einer sein Paket aufmachte, fand er eine neue Hülle mit dem Namen eines anderen. Das wurde dann dem anderen zugeworfen, der es auffangen musste. Der fand darin wieder einen anderen Namen, und so wanderte das Paket im Kreis herum. Oft war ganz zuletzt nur irgendeine wertlose Kleinigkeit darin. Die Folge war eine allgemeine jubelnde Fröhlichkeit. Robert empfing einige Kleinigkeiten und verteilte dafür kleine Aufmerksamkeiten an die Familie White. Von Olivia bekam er einen großen bunten Pfefferkuchensoldaten aus Deutschland, den sie in einem deutschen Geschäft gefunden hatte. Aber die schönste Bescherung bildete ein dicker Brief von daheim und eine Postanweisung von Papa, die ihm Frau White ganz zuletzt überreichte. Das war in dieser undeutschen Bescherung doch wenigstens etwas Heimatliches.

»Nicht wahr«, sagte Olivia zu ihm, als sie in der Diwanecke beisammensaßen, »Sie vermissen doch Ihr deutsches Weihnachtsfest? Gestehen Sie es nur!«

»Oh nein«, erwiderte Robert glücklich, »ich war zu Weihnachten daheim!«

Und als Olivia ihn verwundert ansah, erzählte er lachend seinen Traum.

»Das ist wohl viel hübscher als bei uns!«, sagte Olivia. »Poetischer – wie man in Deutschland sagt. Ich möchte mal so ein Fest mitmachen!«

Und sie blickte Robert mit einem Lächeln an, dass ihm ganz seltsam zumute wurde. Und plötzlich hatte er die Idee, dass ihm der Santa Klaus noch etwas beschert hatte – noch etwas ganz Besonderes und Schönes.

• Auf epilog.de am 22. Dezember 2023 veröffentlicht

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