FeuilletonLand & Leute

Winter im Allgäuer Hochgebirge

Die Gartenlaube • 1874

Voraussichtliche Lesezeit rund 21 Minuten.

Der Winter im Gebirge, besonders hoch oben in den abgelegensten Winkeln und Tälern, ist ein wilder, ungestümer Geselle, dessen eisiger Hauch als tobender Schneesturm die uralten Wettertannen oben auf den Felsschrofen erzittern macht, zugleich aber auch die Zacken und Hörner der hochragenden Berge mit unvergleichlicher Pracht versilbert. Wenn er im Spätherbst einzieht in die Berge und von ihrem eisbehängten Lockenhaupt den ersten Schnee in die stillen Täler schüttelt, so beginnt für die Bergbewohner die lange Zeit stiller, abgeschlossener Zurückgezogenheit. Während in der fernen Großstadt mit dem ersten Schnee die genussreiche Saison beginnt, in welcher die glänzenden Theater und Konzertsäle sich füllen und unter rauschenden Klängen der Musik im Kreise froh genießender Gesellschaft die langen Winterabende rasch entschwinden, kehren in den Hütten der Bergbewohner Ruhe, Einförmigkeit und Einsamkeit ein und wird deren ganzes Leben und Treiben nebst Lust und Leid in die eng begrenzten Räume des Hauses gedrängt.

Der Mensch in den Bergen ruht aus im Winter gleichwie die Natur. Die im Sommer von zahlreichen Herden und dem Jauchzen der Sennen belebten Hochalpen sind vereinsamt und still; die steilen Bergwiesen, auf denen noch im Herbst die Sensen und Sicheln erklangen, womit das duftende Alpenheu gewonnen wurde, liegen unter tiefem Schnee – nur noch in den Wäldern regt sich hier und da Leben, wenn ›die Holzer‹ mit dampfenden Rossen auf rohgezimmerten Schlitten mächtige Baumstämme und Scheitholz zu Tal befördern und der hartgefrorene Schnee unter den harzduftenden Holzlasten knirscht.

Verwöhnten Städtern würde ein Winter im Hochgebirge freilich nicht besonders behagen. Wenn es so recht wettert und stürmt und die Jahreszeit ihre rauesten und unangenehmsten Seiten hervorkehrt, so geht selbst der abgehärtete Bergler nicht vor die Tür hinaus in das ›wüste kehle Wetter‹ und bleibt ruhig in seiner niedrigen Stube am mächtigen Ofen sitzen, in welchem schwere Fichtenklötze prasseln. Ein echter stürmischer Wintertag zeigt den Kampf der Elemente in voller Kraft und Lebendigkeit und bietet ein hochinteressantes Schauspiel. Millionen von Flocken, vom Wind gepeitscht, wirbeln durch die Luft, eilen in tausendfach verschlungenen Linien von den düstern Wolken zur Erde und weben die schimmernde Decke, in welche Mutter Erde sich hüllt, um nach blüte- und fruchtreichen Monaten langen Winterschlaf zu halten. Einzelne Windstöße zerwühlen die aufgehäuften Schneemassen, fegen mit Macht über die steilen Höhen und durch die engen Täler, durchziehen rauschend die dunklen Tannenwälder und führen von den niedrigen steinbelasteten Schindeldächern den Schnee in langen wehenden Schleiern durch die Luft. Hier baut der Wind in wenigen Minuten mannshohe Schneewälle auf; dort stürzen morsche Tannen krachend unter der eisigen Last zusammen, und die Schneekristalle hüllen unter unaufhörlich wechselndem Spiel und in lustigem Tanze Feld und Flur, Wälder und Gipfel in das schneeige Kleid. Hoch auf den Bergen zieht sich das Murmeltier in die Felsklüfte, um den Winterschlaf zu beginnen; die schnelle Gämse flüchtet in geschützte Schluchten und die Alpenkrähe in ihr versteckt liegendes Nest. Öd und scheinbar leblos ist die Natur.

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Der Mensch in den Bergen ruht aus im Winter gleichwie die Natur. Die im Sommer von zahlreichen Herden und dem Jauchzen der Sennen belebten Hochalpen sind vereinsamt und still. Die steilen Bergwiesen, auf denen noch im Herbst die Sensen und Sicheln erklangen, womit das duftende Alpenheu gewonnen wurde, liegen unter tiefem Schnee.
eBook € 0,99 | eISBN: 978-3-7412-9852-3

• Auf epilog.de am 25. Oktober 2016 veröffentlicht

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