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Vom Radfahren

Die Gartenlaube • 1886

Voraussichtliche Lesezeit rund 7 Minuten.
Das erste Velociped nach Freiherrn von Drais 1817Das erste Velociped nach Freiherrn von Drais 1817.

Das anfänglich viel bespöttelte Reitrad ist auf dem besten Wege, sich eine Art Weltherrschaft zu erobern. In allen Ländern wendet sich die Jugend dem Radfahrsport mit ganz besonderer Vorliebe zu, und wenn die Ausbreitung, welche diese Liebhaberei in den letzten zehn Jahren gewonnen, noch eine Weile in demselben Maße Fortschritte macht, so wird es bald kaum eine Stadt mehr geben, in der sich nicht mindestens ein Radfahrer-Club aufgetan hätte. Die Erfahrungen, welche die bisherige Pflege der Radfahrkunst geboten hat, kommen dieser selbst auch wesentlich zustatten. Es hat sich gezeigt, dass dieser Sport ganz vortrefflich geeignet ist, die körperliche Gewandtheit bei jenen, die sich ihm widmen, zu entwickeln, und dass er dabei verhältnismäßig wenig gefährlich ist. So eine Fahrt auf dem windigen, schmalen, schlanken und graziösen Vehikel sieht sich viel halsbrecherischer an, als sie in Wirklichkeit ist. Jeder rechte Junge, der kein Hasenfuß ist und der auch bei anderen körperlichen Übungen nur halbwegs seinen Mann stellt, kann schon nach wenigen Stunden, sehr oft sogar nach einer einzigen Übungsstunde schon ein leidlich sattelfester Radfahrer werden. Und dann steht ihm die Welt offen! Er kann auf seinem Rad auch bis nach Asien hineinreiten, ein kleines Vergnügen, das sich schon mehrere Radfahrer beim besten Wohlsein geleistet. Man kann zwar heutzutage seine Reisen, wie männiglich bekannt, auch mit der Eisenbahn und, wo es Not tun sollte, auch in einer ehrwürdigen Postkutsche und mit Hilfe noch so mancher anderer Gelegenheiten, absolvieren, aber man frage einmal so ein junges Blut, ob es etwas Schöneres gibt, als so sich durch eigene Kraft rasch vorwärts zu bringen und auf dem beschwingten Rade lustig in die Welt hineinzureiten!

Das Velociped von 1868Das Velociped von 1868.

Das Reitrad ist das allermodernste Verkehrsmittel, und wo es zum ersten Male in Bewegung gesehen wird, wird es kaum weniger angestaunt, als vor Zeiten die ersten Eisenbahnzüge. Es nimmt sich ganz kurios aus, wie ein Mensch sich in voller Sicherheit des Gleichgewichtes mit der Geschwindigkeit eines guten Pferdes auf einem so unglaublich spindeldürren Rade fortbewegt. Und doch ist keine Hexerei dabei. Die ganze Maschine ist so einfach, dass man sich billig darob verwundern kann, dass sie nicht seit Jahrhunderten schon im Gebrauch ist. Tatsächlich reicht die Geschichte des Velocipedes gar nicht weit zurück.

Die Erfindung ist eine deutsche, wenn auch hier, wie in so vielen anderen Fällen, der deutsche Gedanke erst im Auslande der eigentlichen praktischen Verwertung zugeführt worden ist. Der großherzoglich badische Forstmeister Karl Freiherr von Drais (nach ihm auch die Bezeichnung Draisine) hat im Jahr 1817 eine Maschine erfunden, welche als die Ahnfrau des heutigen Reitrades zu betrachten ist. Seine Fahrmaschine bestand im Wesentlichen aus zwei hinter einander stehenden Rädern mit einem einfachen Sattelsitz auf der die beiden Räder zusammenhaltenden Stange. Die Fahrt mit dieser Maschine muss sich einigermaßen komisch ausgenommen haben, denn die Fortbewegung erfolgte dadurch, dass der Reiter abwechselnd einmal mit dem rechten, einmal mit dem linken Fuß von der Erde abstieß, um sein Fahrzeug in Bewegung zu bringen und zu erhalten. Freiherr von Drais war imstande, mit dieser seiner Maschine sieben bis acht Kilometer in der Stunde zurückzulegen. Das Ergebnis ist, wie man sieht, ein geringes, dieselbe Strecke kann heute in einer Viertelstunde zurückgelegt werden. Und dann konnte selbst jenes Resultat nur mit einer so großen Anstrengung erreicht werden, dass diese gar nicht zu jenem im rechten Verhältnis stand, da man dafür gleich ganz unverblümt zu Fuß hätte gehen können, und noch dazu mit besserem Erfolg; denn es gibt Fußgänger, die 13 Kilometer in der Stunde gehen; gehen, nicht laufen.

Das Bicycle von 1883Das Bicycle von 1883.

Trotz alledem machte die Erfindung damals großes Aufsehen und nahm ihren Weg nach Frankreich und England. In England namentlich wurde sie durch einen Wagenfabrikanten Mr. Johnson, der ein Patent auf die Erfindung genommen hatte, in Schwung gebracht, und das Publikum taufte das neue Gefährt Dandy-Horse, das heißt Stutzer-Pferd. Die Herrlichkeit war nicht von Dauer; die Liebhaberei verschwand wieder von der Bildfläche, und wenn auch in der Zwischenzeit mancherlei Experimente gemacht worden sein mögen, so gelang es der Velociped-Idee doch erst in den 1860er Jahren das allgemeine Interesse wieder für sich zu gewinnen, und dieses Mal mit entscheidendem, durchschlagendem Erfolg.

Damendraisine von 1885Damendraisine von 1885.

Ein französischer Fabrikant Namens Michaux erregte 1868 auf der Pariser Weltausstellung mit einem Velociped, das im Wesentlichen schon den Charakter des heutigen Bicycles hatte, solches Aufsehen, dass nun sofort an die Produktion im Großen gedacht werden konnte. Jedes Jahr brachte neue Erfindungen für die Verbesserung der Einzelheiten. Das Velociped auf der Ausstellung war noch ganz aus Holz hergestellt, heute besteht es ausschließlich aus Eisen und Stahl und ist dabei doch leichter geworden. Die kraftaufsaugende Reibung ist auf ein Minimum zurückgeführt und durch zweckentsprechende Konstruktion des Gefährtes die Leistungsfähigkeit auf die möglichste Höhe gebracht. An der Vervollkommnung der Maschine haben die Engländer und Amerikaner einen großen Anteil; sie haben es auch verstanden, die Fabrikation an sich zu reißen und bis heute in derselben die führende Rolle zu behalten. Welcher Popularität sich das Reitrad in England zu erfreuen hat, mag aus der Tatsache geschlossen werden, dass der ›Cyclists’ Touring Club‹ gegen Ende des Jahres 1885 in seiner Liste 20 015 aktive Mitglieder auswies. Dabei verfolgt dieser Club keineswegs sportliche Zwecke, diese finden ihre genügende Berücksichtigung in zahllosen andern Clubs; sein Hauptziel ist vielmehr, seinen Mitgliedern die Reisen auf dem Reitrad möglichst leicht und angenehm zu machen.

Zu diesem Behufe sorgt der Club für die Vereinigung von Kameraden zu größeren Touren; durch möglichst ausgiebigen Schutz der Mitglieder gegen Angriffe und Insulten auf den Straßen; durch ein Übereinkommen mit vielen Hotels, bisher mehr als 2000 in England und auf dem ganzen europäischen Kontinent, durch welches den Mitgliedern ermäßigte Preise und aufmerksame Bedienung zugutekommen; durch Herausgabe guter Karten; durch Veröffentlichung von Vorschlägen zu angenehmen und zweckmäßigen Touren etc. Der Club hat in verschiedenen Staaten besondere Konsuln, deren Pflicht es ist, den reisenden Mitgliedern mit Rat und Tat an die Hand zu gehen. Chef-Konsul für das deutsche Reich ist Herr T. H. S. Walker in Berlin, zugleich Herausgeber des in 6000 Exemplaren erscheinenden amtlichen Organs des deutschen Radfahrer-Bundes ›Der Radfahrer‹, Chef-Konsul für Österreich Herr Th. Hildebrand jun. in Wien.

Ein Dreiräder für ZweiEin Dreiräder für Zwei.

Die deutschen Clubs pflegen gleichzeitig die Touren und den Sport mit gleichem Eifer. Der bereits erwähnte deutsche Radfahrer-Bund hat seine Hauptverwaltungsstelle in Magdeburg.

Jetzt sollten wir auch noch etwas über das Dreirad sprechen, allein es ist nicht viel davon zu sagen. Man setzt sich darauf und fährt fröhlich davon. Es ist noch ungefährlicher als das Zweirad und empfiehlt sich namentlich für sportlustige Damen, wie dies bereits der Name seiner neuen Abart ›Damen-Draisine‹ andeutet. Die Schnelligkeit, die mit demselben erreicht werden kann, ist naturgemäß eine geringere. In jüngster Zeit ist als Neuheit auch der ›Dreiräder für Zwei‹ aufgetaucht, welcher namentlich in London von jungen Damen in Begleitung des schützenden Herrn nicht selten benutzt wird.

So blüht nun die Radfahrkunst überall, diesseits und jenseits des Ozeans, und hat auch in allen deutschen Gauen begeisterte Jünger gefunden. Selbst im fernen Indien kennt man sie und der englische Postbote verwertet sie dort mit Erfolg auf seinen weiten Touren, so weit es ihm die Straßen und Wege gestatten. Wer weiß, was ihr noch für praktische Erfolge in der Zukunft bevorstehen? Allen jenen, die sich über alle einschlägigen Fragen genauere Information holen wollen, als sie in diesem kurzen Artikel geboten werden konnte, empfehlen wir die Zeitschrift ›Der Radfahrer‹ und das mit großer Sachkenntnis und Tüchtigkeit gearbeitete ›Handbuch des Bicycle-Sport‹ von Silberer und Ernst, bei welchem 156 Illustrationen dem instruktiven Text zu Hilfe kommen.

• B. Grosser

• Auf epilog.de am 16. Oktober 2016 veröffentlicht

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