VerkehrStraßenverkehr

Staatliche Chauffeur-Schulen

Von Dr. Max Öchelhäuser

Die Welt der Technik • 1.7.1907

Voraussichtliche Lesezeit rund 5 Minuten.

Der erste Tag der Herkomer-Fahrt mit seinen Unfällen stand unter einem ungünstigen Stern. Sofort las man wieder in vielen Zeitungen geharnischte Artikel gegen das Automobil im Allgemeinen und im Besonderen, und wieder rief man nach Gesetzen und Verordnungen, die den ›Unfug‹ steuern sollen.

Die Automobilfrage spitzt sich in der Tat immer mehr zu. Der Kraftwagen hat sich in den letzten zwei bis drei Jahren Stellungen erworben, an die man vorher kaum gedacht hätte. Wir haben heute Automobilomnibusse und Kraftdroschken (die vom Publikum gern benutzt werden), Lastautomobile für Militär- und Postverwaltung, automobile Löschzüge der Feuerwehr, Geschäftsautomobile der verschiedensten Arten; sogar die alte romantische Postkutsche ist zum Automobil verwandelt worden. Was bislang lediglich einen kleinen Teil des Publikums anging, ist jetzt eine öffentliche Angelegenheit geworden. Es hilft nicht mehr, das Automobil vom Erdboden hinwegzuwünschen; dazu hat es viel zu festen Fuß gefasst. Und selbst, wenn sämtliche Sportsfahrzeuge ausscheiden würden, es blieben schon jetzt immer noch so viele Automobile, die zum Erwerb oder aus Nützlichkeitsgründen gebraucht werden, bestehen, dass keine Änderung des Straßenbildes erzielt würde. Es bleibt also nichts anderes übrig, als einen modus vivendi mit dem neuen Verkehrsfahrzeug zu finden.

Niemals wird man dadurch zu einem beide Teile befriedigenden Verhältnisse gelangen, dass man für alle Sünden, die auf der Straße geschehen, ohne weiteres nur das Automobil verantwortlich macht und nach dem Gesetz ruft. Erforderlich ist, dass praktische Besserungsarbeiten geleistet werden. Weder ein Haftpflichtgesetz noch eine Wegeordnung vermag das Heil in der Automobilfrage zu bringen, wenn nicht von innen heraus das Automobilwesen reformiert wird. Das Heil ruht einzig und allein in dieser inneren Reformarbeit!

Der wundeste Punkt beim Automobilismus, der, wie alle neuen Dinge, Entwicklungskrankheiten durchzumachen hat, ist die Ausbildung der Chauffeure. Noch jetzt heißt es gewöhnlich: »Ein Chauffeur muss ein gelernter Mechaniker oder Schlosser sein.«

Ein Automobil mit einem fauchenden Motor sieht für den Laien und auch für den noch unkundigen Automobilbesitzer so gefährlich aus, dass der Gedanke, der Chauffeur ist gelernter Mechaniker, sicherlich etwas Beruhigendes hat. Nur auf diesen Grund ist es zurückzuführen, dass ein so großer Teil der Chauffeure direkt aus der Schlosser- und Mechanikerwerkstatt hervorgeht. Die genaue Kenntnis eines so kompliziert erscheinenden Motors imponiert dem Automobilisten, der nicht Fachmann ist. In dieser Überschätzung des mechanischen Teils der Chauffeursstellung liegt der Grundfehler, der bislang im Automobilismus begangen ist. Die Überschätzung des mechanischen Teils zog die Unterschätzung der eigentlichen geistigen Berufstätigkeit mit sich. An die Schwierigkeiten, die geradezu enormen Schwierigkeiten des Fahrens selbst dachte man nicht.

Darum legten die bisherigen Chauffeur-Schulen den Schwerpunkt auf die Erlernung der Mechanik. Die Fahrübungen vollzogen sich zumeist auf dem Übungsgelände der Schule, und wenn die Ausbildung vollendet war, etwa nach 6 bis 8 Wochen, so hätte der Chauffeur im Schlaf die Mechanik auseinandernehmen können, doch welche Bewandtnis es mit dem Passieren stark schlüpfriger Wege hat, das war ihm nur eine unklare Vorstellung.

Die Kenntnis der Mechanik ist gewiss durchaus notwendig. Aber sie ist nicht so schwer zu erlernen, und selbst ein Nichtmechaniker beherrscht die Mechanik nach sehr kurzer Zeit, sofern er nur intelligent und anstellig ist. Nun stelle man sich hiergegen vor, was alles zum Fahren gehört! Das Fahren eines Fuhrwerks im Großstadtverkehr erfordert nichts mehr und nichts weniger als eine beständige, buchstäblich unausgesetzte Nervenanspannung. Das Auge muss die Straßen immer zu beobachten; jeder passierende Wagen, jeder Radfahrer, jede ›Elektrische‹, jeder an der Bordschwelle stehende Passant muss beachtet werden. Die Szenerie auf der Straße ändert sich in jeder Sekunde. Alle die wechselnden Bilder müssen im Gehirn verarbeitet werden zu klaren, bestimmten Entschlüssen, und dieser Entschluss muss blitzschnell eine entsprechende Bewegung der Hände und Füße auslösen. Das ist etwas, was man nicht auf mechanischem Wege erlernen kann! Die Teile des Automobils stehen fest und bleiben die gleichen, aber der lebendige Verkehr auf der Straße der Stadt oder der Chaussee wechselt mit jeder Stunde, auch mit jeder Witterung. Nur der Mensch ist ein tüchtiger Fahrer, welcher jeden ihm begegnenden Umstand richtig und schnell einzuschätzen weiß und in jedem Augenblick das richtige zu tun vermag. Das ist eine Arbeit, die gesunde Nerven verlangt, eine gewisse Regsamkeit des Geistes, Frische und Lebendigkeit der Auffassung, dazu aber ruhige Entschlossenheit und peinliche Gewissenhaftigkeit. Ein roher Mensch eignet sich ebenso wenig zum Chauffeur wie ein ängstlicher, und ein Langsamer und Schläfriger passt so wenig in den Beruf wie ein Dummer. Solche Menschen mögen in der Schlosserwerkstatt immerhin noch passable Arbeiten leisten und wären somit nach dem alten Gesetz geeignet zum Chauffeur-Beruf.

Man kann von dem oft fachunkundigen Automobilbesitzer nicht verlangen, dass er den richtigen Blick für die zu treffende Wahl besitze. Er wird sich mehr oder weniger auf Zeugnisse und Empfehlungen verlassen müssen. Wenn also in dieser Beziehung etwas gebessert werden soll, so muss sich dieser Wille zur Besserung in der Ausbildung der Fahrer betätigen.

Sechs bis acht Wochen genügen nicht, um in unermüdlicher Praxis die oben angeführten notwendigen Fahrereigenschaften zu entwickeln. Diese Zeit möchte genügen, wenn ein Mensch bereits von Natur aus die Gaben der schnellen Geistesgegenwart und der Überlegung besäße und wenn er bereits in anderen Berufen (zum Beispiel als Kutscher) im städtischen Verkehrsleben Gelegenheit gehabt hat, sie zu betätigen. Die meisten Menschen werden auch in dieser Beziehung nur durch Übung zur Meisterschaft gelangen. Darum muss gefordert werden als grundlegende Bedingung für die Fahrerausbildung:

  1. Fahrübungen auf glatter Bahn zum Kennenlernen des Motors und seiner Handhabung.
  2. Fahrten, zunächst einfacher, dann schwierigerer Art, bei denen der Lehrer den Motor führt und den neben ihm sitzenden Schüler bei jeder sich bietenden Gelegenheit unterweist, welche Vorsichtsmaßregeln hier anzuwenden sind, welche Gefahren jene Passage in sich birgt usw.
  3. Fahrten, zunächst einfacher, dann schwierigerer Art, bei denen der Lernende den Motor führt und der Lehrer nur noch die geistige und körperliche Arbeit des Schülers überwacht und korrigiert. Voraussetzung ist, dass der Lernende bei solchen Fahrten mit allen Wege-, Verkehrs- und Witterungsverhältnissen vertraut gemacht wird.
  4. Der behördliche Fahrschein wird erst dann (an Herrenfahrer sowohl wie an Berufsfahrer) erteilt, wenn der Nachweis erbracht wird, dass der Fahrer mindestens 10 000 km in der oben geforderten Weise mitgefahren ist. Der Fahrschein hat außerdem die Stärke der Motoren anzugeben, welche dem Fahrer anvertraut sind.

Zu diesem letzten Punkte sei bemerkt, dass die Arbeit je nach der Stärke der Motoren ganz verschieden in ihrer Schwierigkeit ist, da schwache Maschinen langsamer arbeiten, während sehr starke Motoren eine solche Schnelligkeit entfalten, dass ein nicht besonders auf sie eingeübter Fahrer versagen muss. Dass die Ausbildung des Fahrers von schwachen Maschinen in allmählichem Aufstieg zu starken übergehen muss, ist demnach selbstverständlich.

Betrachtet man diese Forderungen, deren Bedeutung keiner verkennen wird, so stellt man sich unwillkürlich die Frage: Wer soll das kontrollieren? Darauf gibt es nur eine Antwort: Wir müssen staatliche Fahrschulen haben! Der Staat oder eine öffentliche Behörde hat immer dann die Kontrolle zu übernehmen, wenn es sich um öffentliche Angelegenheiten handelt. Das Automobil ist heute kein privates Vergnügungsfahrzeug mehr, es ist eine öffentliche Angelegenheit geworden. Wenn Menschen durch Leichtsinn und Unerfahrenheit von Fahrern zu Schaden gekommen sind, hat die Öffentlichkeit um so mehr das Recht und die Pflicht, sich um die Zustände im Automobilwesen zu kümmern. Nur sollte man nicht vergessen, dass man mit papierenen Protesten und Gesetzen keine Besserung erzielen wird. Ein tölpelhafter Fahrer kann auch bei 5 km/h Maximalgeschwindigkeit noch Unheil anrichten, während ein tüchtiger Fahrer bei 25 km/h glatt und sicher seinen Weg verfolgt. Nicht auf die Kilometerzahl kommt es an, sondern auf das Können des Fahrers, der das Gefährt lenkt.

Die Anregung zu der staatlichen Chauffeur-Schule ist aus den Reihen der Automobilisten hervorgegangen; diese haben dadurch ihren guten Willen bekundet, die Entwicklung des Automobilismus so zu fördern, dass beide Seiten zu einem ehrlichen und überzeugten Frieden gelangen können. Sache des Publikums und der Behörden ist es nun, sich auf gleichem Wege mit den Automobilisten zu vereinigen; dann braucht uns um die weitere Entwicklung nicht bange zu sein.

• Auf epilog.de am 22. April 2024 veröffentlicht

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