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Über endlose Eisenbahnen

Zentralblatt der Bauverwaltung • 27.4.1889

Voraussichtliche Lesezeit rund 7 Minuten.

Unter dem Titel ›Die Stufenbahn: Neues Verkehrsmittel zur Bewältigung des Personen-Massen-Verkehrs in Großstädten. Patent-Inhaber: Wilhelm Rettig und Heinrich Rettig. 1889‹ ist eine Schrift erschienen, welche zur Erreichung des im Titel angegebenen Zwecks folgende Vorschläge macht.

UntergrundbahnAbb. 1. Ansicht eines Treffpunktes von Rettigs Stufenbahn bei unterirdischer Ausführung.

Im Inneren der Großstädte soll eine Anzahl endloser Bahnen, die also entweder um einen Häuserblock herumlaufen (Abb. 1 u. 2) oder innerhalb einer Straße in sich selbst zurückkehren, auf Hochgerüsten oder unter dem Boden in Tunneln gebaut werden. Diese Bahnen sollen womöglich nicht durch einzelne Züge, sondern durch einen immerwährend laufenden endlosen Zug betrieben werden, der etwa eine Geschwindigkeit von 4,5 m in der Sekunde besitzt. Um nun auf diesen Zug aufsteigen und von demselben wieder absteigen zu können, sollen parallel mit dem eigentlichen Gleis zwei weitere Gleise verlegt werden, auf denen ebenfalls endlose Züge von Wagen, welche zusammen eine einzige Plattform bilden, immerwährend laufen. Die Geschwindigkeit der neben dem eigentlichen Zug laufenden Plattform soll 3 m und die der letzten Plattform 1,5 m in der Sekunde betragen.

Stufenbahn TreffpunktAbb. 2. Rettigs Stufenbahn. Treffpunkt von vier Ringbahnen

Wenn man also neben der letzten Plattform in der Richtung ihrer Bewegung geht, so bedarf es nur eines etwas seitlichen Trittes, um auf die Plattform, welche ungefähr die Geschwindigkeit eines Fußgängers hat, zu kommen. Geht man jetzt auf der Plattform selbst weiter, so bedarf es wieder nur eines Seitentrittes, um auf die zweite Plattform zu kommen; denn die Eigenbewegung und die Bewegung der Plattform, auf der man geht, addieren sich. Ebenso kommt man auf die dritte Plattform, d. h. auf den Zug selbst. Die Plattformen sollen durch endlose Drahtseile, welche in Gabeln unter den Wagen ruhen, getrieben werden (Abb. 3). Die einzelnen Wagen erhalten eine Länge von etwa 2½ m; die Spurweite soll 60 – 70 cm betragen.

Querschnitt StufenbahnAbb. 3. Querschnitt von Rettigs Stufenbahn bei unterirdischer Ausführung.

Der hier niedergelegte Gedanke ist in etwas abweichender Form und Anwendung bereits in Amerika aufgetaucht. Nach dem  Vorschlag von Pearsons sollen nämlich die New Yorker Hochbahnen, die an der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit angekommen sind, dadurch zu weiterer Aufnahme von Massenverkehr befähigt werden, dass sie nie anhalten, sondern an den Haltestellen nur ihre Geschwindigkeit mäßigen. An den Haltestellen soll nun um eine kreisförmige Treppenanlage herum eine Reihe von Drehscheibenringen (in der Zeichnung 15 Ringe) angeordnet werden, von denen jeder äußere um einige Zoll in der Sekunde schneller läuft als der nächst innere. Der äußerste Ring hat die Geschwindigkeit der Züge, mit denen man weiterfahren will. Der Geschwindigkeitszuwachs von wenigen Zollen an den sich berührenden Ring-Umfängen würde somit klein genug sein, um auch noch den Ansprüchen alter Leute zu genügen.

Lässt man die Frage, ob es möglich, bzw. wirtschaftlich denkbar ist, Bahnen mit endlosen, nebeneinander laufenden Plattformen oder mit Ringen gleichen Mittelpunktes in der gedachten Weise zu betreiben, zunächst offen, so dürfte doch eine Bahn mit einer einzigen Fahrplatte, einer endlosen Plattform, wie sie für die Pariser Weltausstellung entworfen war, einmal des Versuches der Ausführung wert sein. Elektrische LokomotiveAbb. 4. Elektrische Lokomotive mit der Zuleitung und Umschaltung des Stroms für die endlose Bahn nach Hénards Entwurf. In einer von vielen Zeichnungen begleiteten Abhandlung von Hénard im Génie civil wird diesem Entwurf die ganz richtige allgemeine Begründung vorangeschickt, dass es Zeit sei, »nachdem man sich so viel mit den Augen des Publikums beschäftigt habe, indem man für seine Unterhaltung oder Belehrung die seltensten und ansprechendsten Dinge zusammengetragen habe, sich auch ein wenig mit seinen Beinen zu beschäftigen und ihm die Ermüdung zu ersparen, welche die unausbleibliche Folge der großen Wege sei«, die man in einer Weltausstellung zurücklegen müsse. Nach einer Erörterung der verschiedenen Fahrgelegenheiten, deren man sich in einer Ausstellung bedienen könnte, kommt Hénard zu dem Schluss, dass die beste Einrichtung für diesen Zweck eine endlose, aus gewöhnlichen offenen Eisenbahn-Güterwagen gebildete, in einer Grube laufende Plattform (Abb. 4) wäre, die mit einer Geschwindigkeit von 14 m in der Sekunde vorrückte. Bei dieser Geschwindigkeit könnte die Plattform sehr leicht bestiegen, verlassen oder überschritten werden.

Endlose EisenbahnAbb. 5. Übersichtsplan einer endlosen Eisenbahn nach Hénard.

Sehr sinnreich ist die Art, wie der elektrische Betrieb dieser Bahn gedacht war. Da die Plattform bei ihrer großen Länge (320 Wagen = 2080 m) in ihren verschiedenen Teilen jedenfalls sehr verschieden belastet sein wird, so sind die Lokomotiven gleichmäßig über den ganzen Zug verteilt, so dass jeder zehnte Wagen eine elektrische Kraftmaschine trägt (Abb. 5). Diese Maschinen erhalten ihre Kraft abwechselnd von acht Gruppen von Dynamomaschinen, die in festen Gebäuden seitlich der Bahn aufgestellt sind. Es bilden sich also für den Betrieb acht Stromkreise, deren Stärke durch Ankupplung von mehr oder weniger Dynamomaschinen jeden Augenblick zu regeln ist; und zwar geht der Strom von jeder Gruppe von festen Dynamomaschinen zu einer neben dem Gleis liegenden, etwa 8 m langen Metallplatte a (oder einem Quecksilberbad) (Abb. 4), von hier durch Taster b in die unter dem ganzen Zug hinführende, seitlich gelagerte und mit dem Zug laufende Leitung c, tritt aus dieser Leitung in die verschiedenen, auf den Wagen befindlichen Dynamomaschinen (Lokomotiven) d, gibt hier seine Kraft ab und kehrt durch die zweite mit dem Zug laufende Leitung c₁, die Taster b₁, und die Metallplatten a₁, zum Maschinenhaus zurück. Obwohl nun die Kraftleitungen c und c₁ endlos sind und mit dem Zug laufen, so bleiben die Stromkreise jeder festen Maschinenanlage doch auf ihren bestimmten Bezirk gebannt, also fest. Dies wird dadurch erreicht, dass über jedem Taster b oder b₁ ein Umschalter (in der Zeichnung durch −/+ angegeben) angeordnet ist, welcher neben jeder Metallplatte a bzw. a₁ selbsttätig durch eine Kurvenführung f so gesteuert wird, dass in dem Augenblick, in welchem die Bürste des Tasters die Metallplatte a berührt, der rückwärtige Teil der Kraftleitung ausgeschaltet wird. Da nun unter jedem Wagen sich ein Taster mit Umschalter befindet, und die Platten a etwas länger als ein Wagen sind, so bleibt der Stromkreis, obwohl der Zug mit der Leitung läuft, durch fortwährende Ausschaltung und Einschaltung von Wagen an seinen Ort gebannt. Die in großer Anzahl neben der Bahn aufgestellten Wärter sind unter sich und mit der Hauptstelle für Überwachung des Betriebs noch durch eine feste Leitung verbunden, welche jeder Wärter unterbrechen kann, worauf sofort die Stromzuführung von allen Dynamomaschinen zum Zuge aufhört. Außerdem sind Sprechleitungen zur Verbindung der Wärterposten und der Maschinenhäuser mit der Hauptstelle angeordnet.

Entnommen aus dem Buch:

Neuerscheinung

Die Aufbruchstimmung und der technische Fortschritt im 19. Jahrhundert führten zu immer neuen Erfindungen, die den Verkehr beschleunigen und die Antriebe optimieren sollten. Dabei wurde oft das System von mit Dampflokomotiven bespannten Zügen auf zwei Schienen grundlegend in Frage gestellt. Manche dieser Ideen sind heute wieder aktuell, und so lohnt sich ein unverfälschter Blick auf dieses interessante Kapitel der Verkehrsgeschichte.
  PDF-Leseprobe € 18,90 | 148 Seiten | ISBN: 9-783-7583-7184-4

• Auf epilog.de am 29. November 2023 veröffentlicht

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