Handel & IndustrieFabrikation

Die Thüringer Spielwaren-Industrie

Das Neue Universum • 1896

Voraussichtliche Lesezeit rund 10 Minuten.
Thüringer Spielwaren

enn wir in New York, in Lima, in Buenos Aires, in Kanada und in San Francisco eine Puppe sehen, wenn wir in Berlin, Wien, München, Bern, in Spanien, Frankreich, Holland und England eine Schachtel Kinderspielzeug zur Hand nehmen, so können wir in 99 Fällen von 100 darauf rechnen, dass die Puppe, diese Schachtel aus Deutschland stammt, und zwar fast immer nur aus den stillen Dörfchen des Thüringer Waldes ihren Weg hinaus in die ferne Welt genommen hat. Seit einem Jahrhundert schüttet, wie aus einem Riesenfüllhorn, der Thüringer Wald diese Ware, welche die Herzen der Kinder aller Länder und Völker entzückt, über die ganze Welt aus.

Die Thüringer Puppe, das Thüringer Spielzeug ist ebenso wie die Tabakspfeife von Ruhla, die Schiefertafel, die bunte Glaskugel, die kleine Steinkugel, die Glasaugen, Glasperlen, Ton- und Porzellangefäße heimisch geworden in den Hütten Sibiriens und in den Basaren Konstantinopels, sie sagen uns in der Fremde überall heimische Grüße aus den tannengrünen Tälern des deutschen Waldgebirges. Besonders sind es die Puppen jeder Art und zu jedem Preise, welche hier erzeugt werden und zu Hunderttausenden über Land und Meer wandern, um die Kinder zu erfreuen; dann aber stammen aus dem Thüringer Wald auch noch die niedlichsten Puppenmöbel, die Wagen und Schiffe, die laufenden Mäuse und springenden Frösche, die singenden Vögel und kletternden Affen, es werden hier verfertigt die Tiere mit Fellüberzug, Karossen, Nussknacker, Dreh- und Würfelspiele, die Soldaten, Archen, Festungen, Baukästen, Menagerien, Kasperletheater, die Scheiben, Armbrüste, Gewehre, Säbel, Helme und Patronentaschen, Eisenbahnen und noch all das, was die Spielwarenindustrie ersonnen hat. Die Herstellung dieser Spielwaren geschieht fast nur durch Hausindustrie. Die Thüringer Dorfbewohner sind meist sehr arme Leute, sie besitzen gewöhnlich ein Streifchen Kartoffelacker und dürfen an bestimmten Tagen Holz im Wald lesen, im übrigen fließt ihr Verdienst zum größten Teil aus dem Verfertigen von Spielwaren. Hausindustrie in ThüringenHausindustrie in Thüringen. Es wird zwar auch in Fabriken gearbeitet; die Hauptmasse der Spielzeuge jedoch entsteht in den Wohnungen der armen Leute, und hier hilft alles bei der Arbeit, Mann, Weib und Kinder. Es gibt ganze Dörfer, wo nichts weiter als Puppenarme und Puppenbeine gemacht werden, andere stellen Köpfe aus Holz her, Knaben haben dann das Geschäft, die Glieder in eine dünnbreiige, fleischfarbene Tunke zu tauchen. Am Ofen, der oft auch im Sommer zu diesem Zweck geheizt ist, oder in der Sonne werden diese Gliedmaßen getrocknet und häufig erblickt man sämtliche Fenster und Gartenzäune eines Dorfes mit Puppenglieder zu diesem Zweck garniert. In anderen Dörfern werden von den Frauen und Mädchen Puppenbälge verfertigt; sie werden aus Leder, Leinwand und Baumwollenstoff genäht und die ganz kleinen Kinder müssen nun diese Puppenbälge bis in die Fingerspitzen umwenden, was ein mühseliges Geschäft ist. Der Lohn für letztgenannte Arbeit beträgt zwei Pfennige pro Dutzend; andere Kinder füllen diese Bälge alsdann mit Sägemehl, größere Kinder bemalen die Puppenköpfe, sie machen die Wangen rot, zeichnen mit feinem Pinsel die Augenbrauen, färben die Lippen, lackieren die geschnitzten Lockenhaare schwarz oder gelb, geben den Zähnen die blendende Weiße, anderwärts setzt man nur zusammen. Dann gibt es Ortschaften, in denen man sich hauptsächlich mit dem Frisieren der Perücken für die Puppen beschäftigt. Diese Arbeit führen meist junge Mädchen aus; mit spitzen Fingern, scharfen Kämmen werden in den Arbeitsstuben dieses Zweiges der Puppenfabrikation die in eng zusammengedrehter Form ankommenden ›Haare‹ entwirrt, die Perücken mit Kamm, Schere und Brenneisen nach der neuesten Mode frisiert und dann auf die Köpfe geleimt. Anderwärts werden von Frauen unendlich viel Wickelkissen angefertigt, auf welche die Täuflinge zu liegen kommen, und diese Kissen kreuzweise mit bunten Bändern verschönert, oder es werden Strümpfchen in allen Farben gestrickt. Ganze Dorfschaften nähen nur Hemdchen, andere Jacken, Höschen, Mäntelchen, befestigen Flitter und Tressen an den Röcken und Taillen, wieder sieht man Familien, in denen korbweise Goldkäferschuhe jeder Größe hergestellt werden, dann Häuser, aus denen zu Tausenden jahraus, jahrein Strohhütchen und Stoffhütchen, Mützen für Bajazzos und Häubchen, große und winzig kleine, hervorgehen.

Diese fertige Arbeit wird nun zu den Sammelorten befördert. Solche sind hauptsächlich das meiningische Städtchen Sonneberg sowie das benachbarte koburgische Städtchen Neustadt an der Heide und die gothaische Stadt Waltershausen, die sich, überragt von dem Schlosse Tenneberg, so hübsch am Eingange des Thüringer Waldes an grünen Tannenbergen hinzieht.

PuppenfrisurPuppenfrisur.

In den geräumigen Fabriksälen der Stadt greift nun eine Arbeit in die andere, die Puppe immer mehr zu vervollständigen. Da werden die einzelnen Glieder durch Kugelgelenke verbunden, welche der Puppe alle dem Menschenkörper ähnlichen Bewegungen auszuführen gestatten. Arme, Beine, Kopf werden hier am Balg befestigt, die Puppe wird angezogen oder muss sich auch nur mit Hemd, Strümpfen und Goldkäferschuhen zufriedengeben. Letzteres geschieht bei der gangbarsten Ware, den Täuflingen, die durch die ganze Welt wandern, nachdem sie in den von Buchbindereien hergestellten Kartons eingepackt worden sind. Jedoch nicht nur diese gewöhnliche, spottbillige Puppe erzeugt der Thüringer Wald, jede Art bis zur feinsten kleinen Modedame wird hier verfertigt. In den Fabriken arbeiten Hunderte von Männern, Frauen und Mädchen, kleine und größere Knaben, indem sie durch Bemalen, Schreinern, Lackieren, Frisieren, Ausbalgen, Stopfen, Kleben, Einschachteln, Verpacken an der Puppenindustrie tätig sind. Diese Massenfabrikation in Haus- und Fabrikindustrie bewirkt es, dass die Thüringer Puppen durchgängig so billig sind. Eine besondere Spezialität der Thüringer Puppen sind die Kasperle. Ziemlich derb aus Holz geschnitzte Köpfe, Hände und Füße werden durch Kittel und Hosen verbunden und durch die hier hineingesteckte Hand bewegt. In bestimmten Dörfern verfertigt man die verschiedenen Typen, den lustigen Hanswurst, die böse Schwiegermutter, den Teufel, den Tod, den Doktor, den Polizeidiener, den Lehrer und den Vagabunden. Oft stellt ein Mann in einer Stunde die ganze Galerie solcher Typen fertig.

Bisher haben wir nur in das Gebiet der Puppenindustrie hineingeblickt. Welche Mannigfaltigkeit weisen erst die Arbeitsstuben und Säle der anderen Fabriken auf, welche sich mit der Herstellung der tausenderlei bunten Spielsachen beschäftigen. Da sehen wir ein Haus, das trägt die Inschrift ›Puppenmöbelfabrik‹. Wir treten ein und uns ergreift Erstaunen über die Fülle von zierlichen Kunstwerkchen, die hier in den Packräumen, in den Mustersälen aufbewahrt werden und der Versendung und der anderen Zwecke ihrer Verwendung harren. Wir finden da Einrichtungen für die Puppenstuben vom schlichtesten Bürgerhaus bis zum Fürstensalon und alles billig, weil auch hier die Arbeitseinteilung, das Ineinandergreifen zahlreicher, vortrefflich eingeübter Kräfte dies möglich machen. Ohne diese Organisation würde die Jugend für so wenig Geld nicht ein derartiges geschmackvolles und vollkommenes Abbild der Wirklichkeit erhalten können. Ebenso interessant sind die zahlreichen Werkstätten zur Anfertigung von Tieren. Wir wollen auch in diese einen Blick werfen. Da sehen wir zuerst Drechsler, diese machen auf Drehbänken aus weichem Holz, welches Buben aus dem Rohen zu viereckigen Klötzen beschnitten haben, eine längliche Rolle; andere Arbeiter schnitzen dann den Leib, setzen Beine ein, und nun geht es daran, den Kopf zu machen. Da werden Hörner eingebohrt, Haare aufgeklebt, Ziegenböcke- und Löwenmähnen mit der Schere zugeschnitten, Ohren gespitzt, schöne Glasaugen eingesetzt, Tiger- und Katerbärte sauber im Maule befestigt und Elefantenrüssel gebogen. Das geht alles gewaltig schnell, und tagtäglich entstehen in diesen Sälen ganze Menagerien. Mit einer Stanze werden dann viele Hunderte und Tausende von Brettern und Brettchen, auf welchen viele dieser Tiere zu stehen kommen, ausgeschlagen, kistenweise gehen diese Gestelle an bestimmte Orte, wo man Räder anfügt und die Tiere ganz fertig macht.

Entstehung der TiereDie Entstehung der Tiere.

In Fabriken sowohl wie auch in der Hausindustrie werden die mannigfaltigen anderen Artikel hervorgebracht, welche auf diesem Gebiet der Thüringerwaldindustrie Ruf verschafft haben. Da sind Drechsler, Schreiner, Schnitzler emsig beschäftigt mit der Herstellung von Baukästen, Sandmühlen, Theatergerüsten, Hampelmännern oder anderen Menschenfiguren. Da werden Schiffe aller Art mit flatternden Segeln und Kiel verfertigt, in unglaublich kurzer Zeit wird hierbei mit Hilfe von Knaben und Mädchen aus einem Kloben guten alten Pappelholzes, etwas Leinwand und einigen Stäben, Schnüren, Steuerrudern und mit Hilfe dreier Farbtöpfe ein schmuckes Schiff hervorgezaubert, welchem in einem Nachmittag auf derselben Schnitzbank in demselben Zimmer ein bis zwei Dutzend gleicher folgen. Große Fabriken befleißigen sich der Herstellung ganzer Armeen, sie machen die Zinnsoldaten. Diese kleine militärische Welt ist das Entzücken der Knaben. Diese in flacher und rundlicher Form gegossenen Gebilde werden von den Arbeitern bemalt; alle Waffengattungen sind hierbei vertreten, dazu Biwaks, Schanzkörbe, Zelte und hundert andere Dinge aus Zinn und Farbe, welche aus dem Kriegs- und Friedensleben der Soldaten die Kinderwelt interessieren. Ein sehr wichtiger Teil der Thüringer Spielsachen sind jene kleinen Werkchen, welche auf der Grundlage der Mechanik und Physik ausgeführt werden und alljährlich in neuerer Form als neue Erfindung entstehen. Auf diesem Gebiete ist Fantasie und Scharfsinn die Triebkraft, die stets Neues schafft und stets neue Überraschungen auf den Markt bringt. Meist einfach und doch dabei geistreich erdacht machen diese Sachen gewöhnlich Glück; sie werden in diesen Fällen zu Hunderttausenden bestellt und geben vielen Dörfern Beschäftigung; eine Zweigarbeit dieser Kunst sind die Vexier- und Überraschungsgegenstände, die Zauberdosen mit den Taschenspielerwerkzeugen, die Schnupftabaksdosen, aus denen plötzlich Teufelchen heraushüpfen, die Weißbrötchen, aus denen beim Auseinanderbrechen eine Maus hervorspringt, die züngelnden, beweglichen Schlangen, die Lokomotiven, Mäuse und Schildkröten, Eidechsen mit Mechanik, zum Fahren und Davonlaufen.

SchiffchenschnitzerSchiffchenschnitzer.

Auch Spielsachen von pädagogischer Bedeutung bringt der Thüringer Wald hervor, Gegenstände, die das Kind zum Nachdenken anregen, seinen Formensinn und seinen Geschmack bilden – da sind die Zusammensetzspiele in hundertfältigen Mustern und Abänderungen. Nach buntfarbigen Vorlagen werden hier Mosaikmuster und Genrebilder aus dem Tier- und Menschenleben, dann auch geografische Karten, Land- und Völkerbilder zusammengesetzt. Ein ebenso rührig kultiviertes Feld der thüringischen Spielwarenherstellung sind die prächtig bemalten und sehr naturnah wiedergegebenen Tiere aus gebranntem Ton. Hierher gehören auch noch die reizenden Erzeugnisse der Porzellanmanufaktur, die Puppentafelgeschirre, Kaffee- und Teeservice, die bunt betupften Schüsseln, Töpfe und Sparbüchschen, die schon zum Preise von drei Pfennigen das Stück auf den Märkten zu haben sind, dann kommen aus den Waldbezirken noch all die tausendfachen Verzierungen der Weihnachtsbäume, die bunten Glaskugeln, glitzernde Sterne, schneeschimmernde Tannenzapfen und funkelnde Baumfrüchte. Die Fantasie der armen Bewohner, welche diese schönen Dinge zur Freude und Lust der Kinder alljährlich schaffen, scheint unerschöpflich – leider aber ist die Sorge und Not meistens die Triebfeder dieses Fleißes und oft der Hunger der stete Begleiter bei der rastlosen Arbeit. Ununterbrochen rastlos in jeder Jahres- und Tageszeit wird in den Thüringer Dörfern und Städtchen an diesen Spielwaren, von denen wir nur einen kleineren Teil in unsern Betrachtungen hier namhaft machen konnten, gearbeitet. An jedem Sonnabend im Winter und Sommer kommen dann Männer und Frauen mit hochbeladenen Schubkarren aus dem Gebirge ins Tal hinab, den Fleiß der Hände abzuliefern, dann wird in den Städten und auf den Dörfern abgerechnet und der karge Lohn ausbezahlt und in Empfang genommen. Im Spätherbst stellen auch die Besteller bei den Sammlern und Fabrikherren sich ein, und je nachdem dann die Aufträge ausfallen, herrscht frohe Laune oder Kummer in den Häusern der armen Thüringer Spielwarenmacher. In allerhand Kisten und Umhüllungen – geht es über Meere, so müssen es Blechkisten sein – wird zu Hunderten von Gros (ein Gros gleich zwölf Dutzend) die fertige Ware verpackt und diese Herstellung der Emballage in Pappe-, Holz- und Flaschnerarbeit ist wieder ein wichtiger Industriezweig der thüringischen Spielwarenindustrie, der viele Hundert Hände beschäftigt. Zwar werden im böhmischen Gebirge, in Schlesien, im Königreich Sachsen, in Berlin und in Bayern ebenfalls viele Spielwaren verfertigt, aber so allgemein und in solchen Mengen, so ausschließlich wie im Thüringer Wald, geschieht dies nirgends und deshalb dürfen wir mit Recht dieses deutsche Waldgebirge die Heimat der Spielsachen nennen.

Entnommen aus dem Buch:
Ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ersetzten Dampfmaschinen zunehmend die Muskelkraft und ermöglichten eine zunehmende Mechanisierung der bis dahin handwerklich geprägten Güterproduktion. Der Abbau von Handelshemmnissen und neue Verkehrswege eröffneten überregionale Märkte, immer mehr Produkte mussten immer schneller und billiger produziert werden. Arbeitsteilung und Spezialisierung veränderten ganze Wirtschaftszweige. Die historischen Originalbeiträge und Abbildungen in diesem Buch geben einen unverfälschten Einblick in die Wirtschaft des 19. Jahrhunderts.
  PDF-Leseprobe € 14,90 | 106 Seiten | ISBN: 978-3-7583-0344-9

• Auf epilog.de am 17. Dezember 2023 veröffentlicht

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