Bau & Architektur

Neue Riesentürme

Prometheus • 1889

Der Eiffelsche Riesenturm auf der diesjährigen Pariser Ausstellung bietet mancherlei Analogien mit dem Giffardschen Riesenfesselballon von 1878. Beide haben, allen Unglückspropheten zum Trotz, sich als praktikabel und interessant erwiesen und – last, not least – einen entschiedenen finanziellen Erfolg erzielt. Der Eiffelturm wird, ebenso wie der Giffardsche Ballon es getan hat, seinem Erfinder ein Vermögen einbringen. Da ist es denn kein Wunder, dass allerorten sich Turmbaugelüste regen. Ganz besonders aber sind es unsere Vettern ›jenseits des großen Baches‹, welchen die Lorbeeren Eiffels ruhelose Nächte bereiten. Es ist eine charakteristische Eigenschaft des Yankee, sowohl im Einzelnen als namentlich in seiner Gesamtheit als Nation, dass er es, was in Europa Großes geschieht, bei sich noch größer schaffen muss. Wir bitten unsere transatlantischen Leser, diese Bemerkung als ein Kompliment aufzufassen. Die erwähnte Eigentümlichkeit der Nordamerikaner ist der Hauptgrund für die gewaltigen industriellen Erfolge, welche sie zweifellos zu verzeichnen haben. Jeder Amerikaner saugt mit der Muttermilch das Prinzip ein: »Bei uns in Amerika haben wir den größten Fluss, den größten Wasserfall, die höchsten Bäume, folglich müssen wir auch die besten Schlittschuhe, die besten Werkzeuge, kurz die vollkommenste Industrie haben.« Der Eiffelsche Riesenturm Das ist vielleicht nicht ganz logisch, aber es ist eine allgewaltige Triebfeder zu rastloser Arbeit und immerwährendem Streben, und darum muss Nordamerika auch seinen Riesenturm haben und wird ihn natürlich bekommen, und zwar bei Gelegenheit der New Yorker Weltausstellung. Die Frage ist nur, für welches der zahlreich vorliegenden Projekte man sich entscheiden soll. Gemeinsam ist allen nur das, dass der Turm bedeutend höher werden soll als der Eiffelturm.

Dass bei allen diesen Konstruktionen unsere bisherigen Begriffe von architektonischer Schönheit unberücksichtigt bleiben müssen, ist wohl selbstverständlich. In erster Linie handelt es sich um die nötige Stabilität. Die geplanten Türme haben daher alle eine weit größere Basis der Eiffelturm. Das gigantischste Projekt ist wohl das des Architekten A. de Graff Hinsdale, dessen 400 m hoher Turm durch vier, den Turm in einer Höhe von 335 m erreichende Strebepfeiler gestützt werden soll, so dass das Ganze das Gerippe einer ungeheuren vierteiligen Kuppel bildet. Die von den Stützpfeilern eingeschlossene Kreisfläche würde einen Durchmesser von 760 m erreichen. Auf dieser Kreisfläche sollen die Ausstellungshallen errichtet werden, so dass also der Turm buchstäblich die ganze Ausstellung unter seine Fittiche nehmen würde. Die Kosten dieses Werks werden verhältnismäßig niedrig, nämlich auf zwei Millionen Dollar veranschlagt.

Ein zweites Projekt, welches von W. L. Hudson herrührt, ist weniger originell im Gedanken, hält sich aber strenger an der Idee des Turmes. Wir führen unseren Lesern eine Skizze dieses Bauwerkes vor, indem wir bemerken, dass die rund um den Turm in zwei voneinander unabhängigen Spiralen verlaufende Galerie weite Fahrstraßen zur Hinaufbeförderung der Besucher mittelst der von Judson erfundenen pneumatischen Bahn bilden soll. Der Judsonturm soll 190 m höher werden als der Eiffelturm – und soll ebenfalls zwei Millionen Dollar kosten.

Die Einzelheiten eines dritten Projekts von Watkin sind bis jetzt nicht bekanntgeworden.

In zwanzig Jahren werden wohl auch die Riesentürme ein überwundener Standpunkt sein. Welchen anderen Gegenstand wird dann wohl die sensationelle Ausstellungstechnik zur Bestätigung ihrer Energie erkoren haben?

• Auf epilog.de am 9. Mai 2023 veröffentlicht

Reklame