Handel & Industrie
Der moderne Arzneihandel
Daheim • 24.5.1890
Der moderne Arzneihandel verläuft in ganz anderen Bahnen, als derjenige der früheren Zeiten, wo sich die Herstellung wie der Vertrieb der Heilmittel ausschließlich auf die Apotheken beschränkte. Das hat sich geändert durch das Dazwischentreten der chemischen Großindustrie. Zunächst nahm sie den Apotheken die Herstellung der wichtigsten Heilmittel ab, eine Veränderung, die man nur mit Dank hinnehmen konnte, weil sie dadurch nicht nur bedeutend billiger wurden, sondern namentlich auch, weil die Großindustrie diese chemischen Präparate in viel größerer Reinheit und Gleichmäßigkeit liefern kann, als der einzelne Apotheker es vermag.
Aber diese Veränderung hat auch ihre Nachteile im Gefolge gehabt, seit die chemische Großindustrie versucht, unter Aufwendung großer Mittel aus rein geschäftlichen Gründen den direkten Vertrieb medizinischer Präparate an das Publikum in die Hände zu bekommen unter Umgehung von Arzt und Apotheken. Letzteres wäre an sich ja kein öffentliches Unglück, wenn jedermann die meist stark wirkenden Medikamente richtig zu handhaben verstünde. So aber hat die Sache ihre großen Bedenken für jeden, der die Verhältnisse vorurteilslos zu beurteilen vermag. Es handelt sich dabei in unserem nervösen Zeitalter meist um Nervenmittel und Fiebermittel, die in großer Zahl auftauchen, um nach einer Zeit kurzen Glanzes wieder zu verschwinden, meist aber nur, um anderen ebenso fragwürdigen ›neuen Errungenschaften‹ Platz zu machen. Einige Tierversuche, einige Beobachtungen am Krankenbett in irgendeiner Klinik, wenn sie nur einigermaßen zufriedenstellend erscheinen – die Misserfolge und bösen Nebenwirkungen werden sorgfältig totgeschwiegen – genügen, um das Heilmittel einzuführen. Die Fabrik hält ihre Zeit für gekommen. Mit Hilfe einer riesenhaften Reklame, mit Unterstützung eines für kundige Augen oft recht fadenscheinigen Mäntelchens von Wissenschaftlichkeit beginnt ein verwerfliches Spiel, ganz nach Art des jetzt etwas von der Oberfläche verdrängten Geheimmittelschwindels. Es verlohnt sich kaum, hier ein bestimmtes Mittel namhaft zu machen, man müsste zu viele nennen, an denen sich stets dasselbe Spiel wiederholt hat. In der Hand des kundigen und im eigenen Interesse vorsichtigen Arztes verdienen einzelne dieser zu den starken Nerven (Schlaf-)mitteln gehörenden Präparate teilweise eine ausgedehnte Anwendung, aber in der Hand des Laien werden sie gar leicht zu einem zweischneidigen Schwert, denn in ihrer unterschiedslosen und namentlich länger dauernden Anwendung äußern sie oft recht bedenkliche Einwirkungen auf das Gehirn und das Nervensystem. Diese Erfahrung hat man schon bei den älteren Nervenmitteln oft genug machen müssen, man braucht sich nur zu erinnern an die Folgen des Opiumessens, den Morphinismus, den Chloralismus, den Kokainismus – den Alkoholismus. Derlei Erfahrungen dringen aber meist erst an die Öffentlichkeit, wenn es zu spät ist für die zahlreichen Opfer.
Die Verhältnisse werden, wie es in Österreich teilweise schon geschehen ist, auch bei uns dazu führen, dass dieser Gegenstand gesetzlich geregelt wird. Denn es wird das Gemeinwohl nicht nur direkt geschädigt, sondern auch indirekt, indem es die ärztliche Welt mit tiefem Widerwillen gegen die zahllosen medizinischen Neuigkeiten und mit einem weitgehenden Misstrauen gegen alle die ›neuen Errungenschaften‹ erfüllt, von denen keiner weiß, wie bald auch sie zum ›alten Eisen‹ müssen geworfen werden.