FeuilletonLiteratur

Julius Verne

Ungarischer Lloyd • 10.12.1875

Voraussichtliche Lesezeit rund 8 Minuten.

Der Mann ein Original; eine vollkommene Novität seine Werke! Wie der Autor es liebt, in seinen Romanen unbekannte Gewalten spielen zu lassen, so scheint er es mit seinem Leben zu halten; sei es aus Bescheidenheit, sei es aus Liebe zum Mysteriösen oder aus Reiz des Pikanten, der darin liegt: Julius Verne, der in Paris lebt, hat sich, so viel Recht und Aufforderung dazu auch vorlagen, noch in keiner Weise mit seiner Person an die Öffentlichkeit gedrängt; ja er ist selbst denen, die sich in Deutschland, seis in geschäftlicher, sei es in literarisch-kritischer Richtung auf das Eingehendste mit seinen höchst eigenartigen Werken befasst haben, unbekannt geblieben. Das ist sonst nicht die Art, die wir den Franzosen zuschreiben. Während man heutzutage bei Jules Verne leichthin vom ›Altvater der Science Fiction Literatur‹ spricht, hatte man damals, zumal der Begriff ›Science Fiction‹ auch noch längst nicht erfunden war, einige Schwierigkeiten damit, sein Werk einzuordnen und überhaupt die richtigen Worte für das ›kolossal Neue‹ seines Werks zu finden. Dies dokumentiert denn auch sehr schön dieser Artikel aus dem Ungarischen Lloyd aus dem Jahr 1875. • Gerd Schubert Den Originalverlag seiner Werke, die schon vor Erscheinen der deutschen Gesamtausgabe (A. Hartlebens Verlag in Wien, Budapest und Leipzig) in vielen Übertragungen zirkulierten, besitzt die Firma Hetzel u. Comp. in Paris. In allen 21 Bänden findet sich nicht eine einzige Andeutung, die im entferntesten mit der Stellung des Autors zusammenhinge.

Machen wir uns zunächst klar über das Talent des rasch zur Berühmtheit gelangten Autors. Die erste durchgreifende Wahrnehmung ist diese: Die Wesenheit, im Großen und Ganzen genommen, ist eine so ausgeprägt spezifische und erfüllt den Autor so durch und durch, dass er gar keinem Zweiten sich parallel stellen lässt, dafür aber sich selbst unwandelbar gleich und treu bleibt. Es ist ein und derselbe große Zug vom ersten bis zum 21. Band, und der Kenner, der sich einmal in die Manier hineingelesen hat, wird schließlich mit gleicher Sicherheit die Art und Weise Vernes sich konstruieren und mit gleicher Klarheit sie darlegen können, ob er nun seiner Beurteilung die eine der größten (dreibändigen) Kompositionen unterlege: Die Kinder des Kapitän Grant und Die geheimnisvolle Insel, oder aber, ob er eine der kürzesten und knappsten herausziehe wie etwa aus Band 19 Die Blokadebrecher oder aus Band 20 Eine Idee des Doktor Ox. Wir unsererseits haben die Eigenart Vernes in vollster Wucht und frappantestem Glanz sich entfalten sehen in den zwei Erzählungen: Zwanzigtausend Meilen unterm Meer und Abenteuer des Kapitän Hatteras. Wer übrigens bei dieser fast mit plastischer Rundung in fest umschriebenen Linien sich absetzenden Gleichartigkeit des Talents Einförmigkeit im Ton und in den Gestaltungen fürchten sollte, der findet sich zu seiner Überraschung enttäuscht und liest den 21. Band mit der gleichen Spannung wie den ersten. Es sind immer neue Kreise in den unermesslichen Regionen von Erde und Himmel, in die wir eingeweiht, es ist ein immer neues Spiel von Kombinationen der Kräfte und Elemente, die vor uns aufgeführt, es sind neue Charaktere und Personengruppen, die in Tätigkeit gesetzt, ganz verschiedenartige Fantasiegebilde und Landschaftsgemälde, die vor uns ausgebreitet werden, in jedem Stück neues, überraschendes, mächtiges und prächtiges Leben, ein bewältigender Reichtum von Schöpfungen und Bildungen.

Und nun die spezifische Wesenheit! Wir nannten sie früher schon ausgeprägt in der durchaus ungewohnten und neuen, in der ganz einzigen Art der Gestaltungen, welche seine riesige Fantasie schafft, und das Einzige beruht in der von keinem vor ihm versuchten innigen Verknüpfung zweier ganz verschiedener, ja ihrer Natur nach widersprechender Elemente zu Gebilden von mächtig ergreifender Lebenskraft. Seine abenteuerlichen Reisen nach bekannten und unbekannten Welten verwenden auf der einen Seite einen ganz ungeheuren Apparat moderner Naturkenntnisse, ein riesig aufgehäuftes, ein fast unübersehbares Material aus allen den Zweigen dieses neuesten Wissens von der Natur, deren kleinster ja heute zu einer die volle Lebenskraft absorbierenden Disziplin angewachsen ist; eine mathematisch-exakt abgewogene und ebenso genau benutzte und angebrachte Kenntnis aus den Kreisen der Astronomie und Mathematik, der Mechanik und modernen Erfindung, der Chemie und Physik, der alten und neuen Geografie und der sämtlichen naturbeschreibenden Zweige. Verne setzt also den einen Fuß sehr energisch in diese realistisch-materielle Welt hinein, mit deren eingehender Erforschung die jungen Generationen sich gewaltig zu schaffen machen; er nimmt die Fakten und die sie regierenden Kräfte, kombiniert sie, rechnet mit ihnen, gibt die Zahl- und Zeitbestimmungen, die Raum- und Zeitgrößen mit aller Genauigkeit des Mathematikers, führt uns die nackten, klaren und scharfen Tatsachen des Physikers und Mechanikers, die unbeirrbaren astronomischen Gesetze der Weltbewegung auf das Genaueste vor und bleibt mit erstaunlicher Festigkeit im Bereich der erkannten und anerkannten Naturgewalten stehen, und die Bewegung, die er aus ihnen herausschlägt, hält sich gemessen, Schritt um Schritt vorgehend, im Kreise der von unserer neuesten Wissenschaft als Realitäten erwiesenen Gründe und Wirkungen.

Jules Verne

Das ist die eine Seite: der unantastbare, der mit mathematischer Sicherheit durchgeführte Realismus. Aber im Handumdrehen haben wir eine vollkommen verschiedene Gestalt vor uns. Derselbe Mann, der den unermesslichen Schatz realsten Wissens plünderte, um uns den Inhalt desselben in tausend Konstruktionen hinzulegen; derselbe, der so fest auf Granitboden steht, macht eine unberechenbare Wendung, springt in einer Minute mit dem zweiten Fuß ins Unendliche hinaus, beginnt den Reigen mit den Meteoren und Nebelflecken, treibt seine verwegenen Kombinationen und Fantasierechnungen ins Ungeheuerliche und Unmögliche; er macht Prozesse durch, viel verwegener als der berühmte Dichter, der seine Riesenfeder in den Schlund des Ätna tauchte, um mit ihr den Namen der Geliebten in den Himmel zu schreiben; Er springt, schnaubt, fliegt hinein ins Schranken- und Gesetzlose, ins Abenteuerliche, Tolle und Märchenhafte; er spielt mit einer riesig-ungeheuerlichen Naturfantastik, vor welcher alle Gesetze verstummen. Es ist nach beiden Seiten die Bezeichnung ›Naturwissenschaftliche Romane‹ in ihrem charakteristischen Recht, und wir haben kurzweg eine neue Art vor uns und den Schöpfer einer solchen. Sie und er stehen heute noch einzig da; es ist zweifelhaft, inwieweit es andern gelingen möchte, auf den gleichen Pfaden zu wandeln.

Das unbedingt Originale liegt sonach in der Organismen schaffenden Verknüpfung der mathematisch-genauen Real- und der fantastisch-romantischen Ideal- oder besser Traumwelt, und das durch und durch Charakteristische des Schaffens und der Schöpfungen fassten wir an einem andern Ort in einem Satz zusammen, an dem wir nichts zu ändern finden. Wir sagten: Sollen wir in einem Paradoxon reden, so nennen wir das unsern Autor Auszeichnende die Fantastik des Materialismus, und insofern ist er wiederum eine Erscheinung modernsten Schlags. Also ein Talent des äußersten Dualismus, das aber – um ein weiteres Paradoxon zu brauchen – durch sein Fixieren auf die mathematisch-genauen Rechnungs- und Konstruktionspunkte die Logik des Unmöglichen aufbauen will.

Töricht, wer einem Autor dieser Art gegenüber etwas Ausschlaggebendes glaubt gesagt zu haben mit der Erklärung: Er belehre nicht, er verwirre. Wer so redet, beweist entweder die Unkenntnis mit den Werken Vernes oder den Mangel an besonnener Abstraktionskraft, die dem Leser ja jeden Augenblick jene Grenzen zwischen realem Wissen und fantastischem Rechnen und Träumen herausfinden lässt, welche das mächtige Gestaltungstalent des Autors, ästhetisch fein operierend, allerdings vorweg verwischt. So gilt uns denn in Vernes Romanen die eine und die andere Seite gleich viel, die auf Belehrung abzielende und die der poetisch-ästhetischen Unterhaltung dienende, sonach nicht der eine oder andere Zweck abgetrennt, sondern der Doppelzweck. Wir schätzen die verwegenen Fantasiegebilde, als freipoetisches Spiel – wir werden mächtig erfasst und eingesponnen in dieses neue Märchenfeld, das Märchen des Realismus, der Materie. Aber wir repetieren auch die anmutende Verbreitung populären Naturwissens aus allen Zweigen, jene auf die fesselndste Art angebrachte Belehrung, welche von allen Ecken und Enden her Naturkenntnisse in Kreise hineinträgt, die sonst nicht so schnell und jedenfalls nicht so gierig danach greifen möchten. Man unterscheide wohl, und man fordere nicht, was man nicht darf: Verne ist nicht Mathematiker noch Astronom, nicht Verfasser von physikalischen oder mechanischen Hand- und Lehrbüchern, er ist und bleibt Romanschriftsteller. Aber er streut in elegantester und gewandtester Weise eine erstaunliche Fülle von Kenntnissen hin, aus allen Kreisen, und der Leser wird umso eher veranlasst, davon Notiz zu nehmen, als ohne ihre Unterlage die gewaltigen fantastischen Konstruktionen, die er aus der unerhörten Multiplikation der realen Kräfte herausschlägt, absolut nicht verständlich sind. Übrigens bedarf er, um die wunderbaren Reisen nach dem Mond und um den Mond, nach dem Mittelpunkt der Erde, 20 000 Meilen unterm Meer, die Fahrten nach dem Nordpol und in die nie erreichten Eisgefilde des äußersten Südens, die erstaunliche Schnellreise um die Erde, die Forschungen in ganz unbekannten Erdgürteln, die Ballonfahrten und Dramen hoch in den Lüften auszuführen – er bedarf zu diesen fabelhaften und glücklich erreichten Zwecken solcher Träger, die er heroisiert. Damit sie groß genug seien für die tollkühnen Unternehmungen, muss er ihnen an Geistes- und Körperkräften titanenhafte Dimensionen geben, ihnen einen Mut und eine Energie zusprechen, die alles ertragen und alles überwinden. Dadurch nehmen diese Gestalten etwas Mysteriöses an, das ganz eigenen Zauber auf sie wirft, aber auch mehrfach eine ins Düstere und Melancholische herüberführende Grandiosität entwickelt, etwas Dämonisches an sich trägt. Überhaupt schwebt immer eine unbekannte Riesenmacht über diesen prometheisch-gigantischen Unternehmungen und lässt sie gelingen.

Die spezifisch wissenschaftlichen Hilfsmittel sind unübersehbar: eine Masse aus allen Jahrhunderten gezogener geschichtlicher Daten über Erfindungen, Entdeckungen, mechanische Konstruktionen, über die Fortschritte in den Einzelwissenschaften; Aufbau und Aufnahme philosophisch-wissenschaftlicher Theorien der allerverschiedensten Art; Rechnungen über die Distanzen, die Materien und Medien; Darlegung physikalischer Gesetze und mechanischer Konstruktionen höchst verwickelter Art; Komposition, Wesen und Wirkungsweise der verschiedenartigsten Materien, die gewaltigsten Vermessungen am Himmel und auf der Erde; Bahnberechnungen, Lichteffekte, Temperaturmaße, Höhenmessungen, Gesetze der Schwere, Bestimmung der Anfangs- und Endgeschwindigkeit fliegender Körper unter Einwirkung mannigfach sich kreuzender Kräfte; die ungelösten Fragen des Himmels, so über die Mondbewohner, den Bau der Erdrinde und die Komposition des Erdinnern bis in riesige Tiefen, die auf dem Festland und in den Meeren vorkommenden organischen Schöpfungen und die vorweltlichen Gebilde; Operationen, Rechnungsaufgaben, Instrumente und Apparate der mannigfachsten und sinnreichsten Art usw. Kurz, die Aufzählung ginge ins Ungemessene.

Das eigentliche Prachtmoment in Vernes Darstellungen sind die Bilder der kontinentalen, der maritimen und der Himmelslandschaften. Man nehme den Anblick des Himmels in einer dem Mond zustrebenden Höhe oder den des Mondes auf der von der Sonne abgewendeten Seite; man durchwandere die mit einem Reiz düsterer Art und einem fast geheimnisvoll sich ausprägenden Leben ausgestatteten Reiche des alleräußersten Südens und Nordens; man blicke in jene unermessliche Höhle mit dem Riesenmeer tief unten im Erdenschoß und mit der ganz erstaunlichen Wunderwelt der Urschöpfungen; oder aber auf die von Atlantis als untergegangenen Erdteil mit den Resten des organischen und des Menschenlebens – die letzteren zwei Gemälde insonderheit von grandios-majestätischer Wirkung; man mache den fabelhaften Spaziergang mit und die Jagdstreifereien auf dem Grund des Meeres. Man streiche im Ballon über die unzugänglichen Wüsten und mephitischen Sumpfgegenden Afrikas hin. Wir müssen auch hier mit einem sehr gedehnten und so weiter schließen. So liegen sie vor uns, lebensvoll, anschaulich, springend, greifbar und prachtvoll, Groß und Klein, Hunderte dieser Gemälde.

• Dr. J. J. H

Entnommen aus dem Buch:
Die ›Zeitreisen‹ knüpfen an die Tradition der Jahrbücher und Zeitschriften ›zur Bildung und Erbauung‹ aus dem 19. Jahrhundert an. Eine bunte Auswahl von Originalartikeln begleitet den authentischen und oft überraschend aktuellen Ausflug in die Geschichte. Kultur- und Technikgeschichte aus erster Hand, behutsam redigiert, in aktueller Rechtschreibung und reichhaltig illustriert.
  PDF-Leseprobe € 14,90 | 124 Seiten | ISBN: 978-3-7543-5702-6

• Auf epilog.de am 3. Oktober 2000 veröffentlicht

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