Handel & IndustrieFabrikation

Fabrik für den Bau von Drahtseilbahnen

von Adolf Bleichert & Co. in Leipzig-Gohlis

Uhlands Industrielle Rundschau • 20.1.1887

Voraussichtliche Lesezeit rund 5 Minuten.

Der ungeheure Umschwung auf fast allen Gebieten der Industrie, welchen die Verbesserung der Verkehrsverhältnisse durch den Bau von Eisenbahnen hervorgebracht hat, erklärt sich zum großen Teil durch die Möglichkeit, von einem Zentralpunkt industrieller Tätigkeit aus weite Absatzgebiete auf wohlfeilem Weg mit den dort geschaffenen Gebrauchsartikeln zu versehen. Die Anlage von Eisenbahnen ist jedoch an gewisse örtliche Verhältnisse gebunden und es blieben deshalb bisher verschiedene wichtige Industriezweige, welche ihrer Natur nach nur in unwirtlichen Gegenden mit schwierigen Bodenverhältnissen aufkommen konnten, von den gewonnenen Vorteilen nahezu ausgeschlossen. Ganz besonders waren es viele Berg- und Hüttenwerke, welche durch den ungemein kostspieligen Transport ihrer Rohprodukte vom Bergwerk bis zu den Schmelzhütten resp. von dort zur nächstliegenden Bahnstation anderen, günstiger gelegenen Werken gegenüber schwer geschädigt wurden. Von höchster Notwendigkeit für das gedeihliche Fortbestehen dieser und zahlreicher anderer Arbeitsstätten war ein Transportsystem, das, unabhängig von dem zu überschreitenden Terrain sowie von Witterungseinflüssen, mit äußerst geringem Bedarf an Grunderwerb und Dienstpersonal, die Transportkosten auf ein Minimum herabsetzte und bei größter Einfachheit und somit Wohlfeilheit der Anlage die wünschenswerte Regelmäßigkeit und Sicherheit des Betriebes gewährleistete.

Als den genannten Forderungen im vollsten Maße entsprechend hat sich in einem Zeitraum von nunmehr fünfzehn Jahren das von dem Ingenieur Adolf Bleichert zur höchsten Vollkommenheit ausgebildete System der Drahtseilbahnen bewährt. Bekanntlich beruht dasselbe auf der Anwendung zweier in der Luft ausgespannten, in gewisser Entfernung unterstützten Drahtseils oder Rundeieisenstangen, die an einem Endpunkt der Linie verankert, am anderen mit über Rollen wirkenden Gewichten belastet sind und als Laufbahn für die an ihnen hängenden Förderwagen dienen, welch letztere mittels eines an beiden Endpunkten über horizontale Scheiben geführten, durch motorische Kraft bewegten endlosen Seils fortgezogen werden. Hat ein gefüllter Wagen die Bahn durchlaufen, so löst er sich selbsttätig vom Zugseil und geht auf die die Enden der Laufseile verbindenden Weichen über, während das Zugseil sich weiter bewegt. Nachdem ein Arbeiter den Wagen entleert und auf der Weichenschiene dem anderen Laufseil zugeführt hat, wird derselbe durch das Zugseil an den Ausgangspunkt der Bahn zurück befördert, um von neuem gefüllt zu werden. Derartige Bahnen werden mit Vermeidung kostspieliger Unterbauten resp. Überbrückungen über Berge, Täler, Flüsse, Häuser, Eisenbahnen in freien Spannweiten von über 500 m führt. Wo die lokalen Verhältnisse die Beibehaltung der geraden Linie für die ganze Länge der Bahn nicht gestatten, werden Bruchpunkte in beliebigen Winkeln durch Anbringung besonderer Kurvenunterstützungen eingeschaltet.

Übereinstimmend mit der im Leben der Völker wie der Einzelnen immer wiederkehrenden Erfahrung, dass das wirklich Gute und Bedeutende sich aus unscheinbaren Anfängen entwickelt, ist die von dem genannten Konstrukteur zur praktischen Verwertung seines Systems unter der Firma Adolf Bleichert & Co. ins Leben gerufene Fabrik für den Bau von Drahtseilbahnen aus bescheidenen Verhältnissen zu staunenswerter Größe emporgewachsen. Nachdem dieselbe im Jahr 1874 in beschränkten Räumen zu Neuschönefeld bei Leipzig ihren Anfang genommen, wurde im Jahr 1881 das nördlich von Gohlis unweit des Magdeburger Bahndammes errichtete umfangreich Etablissement bezogen, dessen Ansicht die beifolgende Illustration wiedergibt.

Fabrik für den Bau von DrahtseilbahnenFabrik für den Bau von Drahtseilbahnen von Adolf Bleichert & Co. in Leipzig-Gohlis.

Diese blühende Fabrikanlage, in welcher ausschließlich die einzelnen Bestandteile der Bleichertschen Konstruktionen hergestellt werden und die gegenwärtig etwa 120 Arbeiter und ein technisches und kaufmännisches Personal von rund 40 Beamten beschäftigt, macht in ihren Äußeren wie im Inneren einen imponierenden und zugleich gefälligen Eindruck, indem sie als vielgegliederter Organismus das einheitlich Zusammenwirken der intellektuellen und der physischen Arbeit zum Wohl des Ganzen veranschaulicht. Die kleineren Apparate werden als Massenartikel behandelt, wodurch in den Werkstätten eine weitgehende Arbeitsteilung – diese Hauptbedingung eines rationellen Betriebs – durchgeführt werden kann. Im Vordergrund des Bildes rechts erhebt sich das hübsch ausgestattete, massive und mit Niederdruck-Dampfheizung versehene Verwaltungsgebäude, in welchem sich die Geschäfts- und Konstruktions-Büros befinden. An das Verwaltungsgebäude schließt sich direkt die geräumige, 125 m lange Dreherei an. Neben einer großen Anzahl von Drehbänken, von denen zwei zur Bearbeitung der großen Seilscheiben dienen, ist hier eine Reihe von verschiedenen Hobel-, Stoß-, Fräs- und Bohrmaschinen aufgestellt; rückwärts befinden sich Einrichtungen für die Montierung der Förderwagen samt ihren Laufrädern und Kuppelungsapparaten. Mit der Dreherei steht ein zweites, größeres Gebäude in Verbindung, das unten eine Schmiede mit vier Schmiedefeuern, sowie die nötigen Blechscheren, Loch- und Bohrmaschinen für die Anfertigung der eisernen Wagenkästen und eine Lackiererwerkstätte enthält, während im oberen Stockwerk die Räume zur Herstellung und zur Aufbewahrung der Modelle liegen. In dem gleichen Gebäude ist eine Biegemaschine aufgestellt, durch welche mit Hilfe dreier Kaliberwalzen die in Zungen auslaufenden Hängebahnschienen ‚ die den Anschluss an die Seilbahn vermitteln, nach Bedarf gebogen werden. In der Mitte des freien Raumes zwischen dieser Gebäudegruppe steht die eigentliche Schmiede; in derselben befinden sich acht Schmiedefeuer und ein Friktionshammer, System ›Hasse‹. Die in großer Anzahl vorhandenen Gesenke dienen hier zur Herstellung der mehrfach gekröpften Gehänge für die Seilbahnwagen. Zwischen der Schmiede und dem rückwärts liegenden größeren Gebäude ist die Anlage eines Maschinenhauses projektiert. Die jetzt in Gebrauch befindliche Antriebsmaschine ist eine auf Tragfüßen ruhende Lokomobile von R. Wolf in Buckau-Magdeburg, welche provisorisch neben der Dreherei in einem besonderen Anbau aufgestellt ist. Der Kessel der Lokomobile liefert zugleich den zur Heizung der Werkstätten nötigen Dampf. Vor der Schmiede steht noch ein geräumiges Magazin zur Aufnahme des Vorrates an Gusstücken. Die Fabrik besitzt eine eigene Wasserleitung mit einem Reservoir, welches mit Hilfe der Dampfmaschine gespeist wird. Die gesamte Grundfläche der Anlage beträgt etwa 16 000 m². Das Bleichertsche Etablissement in seiner heutigen geschäftlichen Ausdehnung stellt eins der großartigsten Beispiele dessen dar, was der Erfindungsgeist im Bunde mit Fleiß und Beharrlichkeit zu erreichen vermag. Mehr als 300 Drahtseilbahn-Anlagen von zusammen über 325 000 m Länge, welche von der Firma während der verhältnismäßig kurzen Zeit ihres Bestehens nicht nur in Deutschland, sondern in fast allen europäischen Staaten und selbst in überseeischen Ländern für die verschiedensten industriellen Zwecke ausgeführt wurden und deren einige sogar als Ersatz bestehender normalspuriger Eisenbahnen dienen, legen ein glänzendes Zeugnis ab für die Leistungsfähigkeit des Systems und für die Solidität des auf dasselbe gegründeten Unternehmens, ein Zeugnis, das nicht nur der betreffenden Firma zur Ehre gereicht, sondern durch welches zugleich aufs Neue bewiesen wird, dass auch unter den vielbeklagten widrigen Verhältnissen der Neuzeit Intelligenz und Energie dauernde Erfolge erringen.

Entnommen aus dem Buch:
Ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ersetzten Dampfmaschinen zunehmend die Muskelkraft und ermöglichten eine zunehmende Mechanisierung der bis dahin handwerklich geprägten Güterproduktion. Der Abbau von Handelshemmnissen und neue Verkehrswege eröffneten überregionale Märkte, immer mehr Produkte mussten immer schneller und billiger produziert werden. Arbeitsteilung und Spezialisierung veränderten ganze Wirtschaftszweige. Die historischen Originalbeiträge und Abbildungen in diesem Buch geben einen unverfälschten Einblick in die Wirtschaft des 19. Jahrhunderts.
  PDF-Leseprobe € 14,90 | 106 Seiten | ISBN: 978-3-7583-0344-9

• Auf epilog.de am 27. Mai 2024 veröffentlicht

Reklame