VerkehrNahverkehr

Die erste Probefahrt durch die Londoner Untergrund-Eisenbahn

Die Gartenlaube • 1862

Voraussichtliche Lesezeit rund 10 Minuten.

London ist, wie die Liebe, eine alte Geschichte, doch bleibt sie ewig neu. Ich für meinen Teil habe von dem unterirdischen, überirdischen und gewöhnlichen London auf ebener oder vielmehr hügeliger Erde schon unendlich viel gesehen, gelesen und geschrieben, aber meine unterirdische Eisenbahnreise unter London hin machte ich mit allen Gefährten zum ersten Mal. Es war die erste Versuchsreise mit gewöhnlichen Sterblichen von der Oberwelt, denen nicht nur freie Fahrt, sondern auch, im Falle eines mit dem Leben bezahlten Unglücks, unentgeltliches Begräbnis zugesichert war. Außerdem erwartete die Überlebenden ein Frühstück mit Champagner am nördlichen Ende der unterirdischen Eisenbahn.

Die Sache war, dass gewöhnliche Bewohner durch eine erste Fahrt Vertrauen auf das vielfach verdächtigte Unternehmen begründen helfen sollten. Wie alles Neue findet auch die unterirdische Londoner Eisenbahn ungemein viel bittere Feinde. Obgleich die Menschen immer nach ›Fortschritt‹ schreien, brüllen die Meisten doch gern vor Zorn, wenn ihnen wirklich ein wesentlicher Fortschritt, der sie aus der dämlichen Gewohnheit ihres kleinbürgerlich-engstirnigen Daseins aufstört, zugemutet wird. In wie schlechtem Rufe die neue Eisenbahn stand, erfuhr ich gerade da am meisten, als ich mit dem Omnibus nach dem Westend-Ende derselben fuhr, um die erste Fahrt mitzumachen.

Als wir in Oxford Street vor den neuen gemauerten Türmen vorbeifuhren, fragte ein Fremder aus der Provinz: »Bitte um Entschuldigung, was mag dieser seltsame Bau dort bedeuten?«

Der Angeredete, der täglich zweimal vorbeifährt, antwortet, ohne hinzusehen: »Drainage, Sir, Drainage.«

»Bitte um Verzeihung,« fällt ein Herr daneben ein, »nichts von Drainage, sondern ›levels‹.«¹

¹) Wasserwaage, Nivelliertürme und zehn andere Bedeutungen. ²) Wieder ein vieldeutiges Wort ohne nähere Angabe: Schaft, Spitze, Stamm, Deichsel, Schacht, Stiel, Griff.

»Levels? Bitte um Verzeihung, was für levels?«

»Nichts von levels, sondern shafts«² – neue Erklärung.

»Schaft?«, zwitscherte eine Dame. »Gott bewahre! Mir hat man gesagt, es soll ein Monument für Prinzen Albert werden.«

»Dafür sind über 100 000 Pfund gesammelt, für Prinz-Albert-Monumente zu Dutzenden; aber er braucht keins mehr. Er hat für mehr als hundert Wohltätigkeits-, Kunst- und Bildungs-Anstalten den Grundstein gelegt, und die erste Weltindustrie-Ausstellung war seine Idee, und da – draußen – haben Sie es gesehen? – die neue Ausstellung ist seine Idee. Ich will Ihnen sagen, was diese Türme bedeuten. Stationen für die Stadtposttelegrafennetze.«

»Sehr gütig, Gentlemen«, sagt der Dumme aus der Provinz, »aber das kann alles nicht sein. Ich habe viel von der unterirdischen Eisenbahn gehört. Die muss hier unten weglaufen. So schließe ich von meiner Karte. Und so habe ich meine eigene Vermutung: Diese Türme haben etwas mit der Bahn unten zu tun.«

»Richtig,« platzte ich heraus, »ganz richtig. Es sind Schacht- oder Licht- und Lufttürme für die Untergrund-Eisenbahn.«

»Schacht-, Luft- und Lichttürme für da unten? Lächerlich! Da unten gibt es weder Licht noch Luft. Nichts als Dampf und Tod.«

»Und Wasser in Menge.«

»Ja, gehörig. Die Arbeiter unten tragen alle Jacken von Kork.«

»Jacken von Kork? Mein Gott – wozu denn?«

Ein ernsthafter, feierlicher Gentleman in weißer Krawatte fiel hier salbungsvoll ein: »Meine feste Überzeugung ist, dass Erde und Wasser uns gegeben wurden, um darauf, nicht unter denselben zu reisen, und dass jeder gottlose Versuch, diese göttliche Bestimmung zu verletzen, vom Himmel bestraft wird.«

»Ich bin eben auf dem Wege, die erste Probefahrt mitzumachen,« platzte ich unwillig gegen die gottlose Frömmigkeit der weißen Krawatte heraus.

Weiterlesen mit
epilog.de

Werde epilog.plus-Mitglied und Du bekommst

  • Zugriff auf exklusive Beiträge wie diesen
  • PDF-Versionen und/oder eBooks von ausgewählten Artikeln
  • weniger Werbung und dafür mehr historische Bilder und alte Reklame

und Du hilfst uns, noch mehr interessante Beiträge zur Kultur- und Technikgeschichte zu veröffentlichen.

Ich bin bereits Mitglied und möchte mich anmelden.

• Auf epilog.de am 12. Dezember 2023 veröffentlicht

Reklame