FeuilletonJournalismus & Nachrichtenwesen

Eine Zeitungsgasse in Wien

Die Abendschule • 8.11.1878

Wien hat eine Zeitungsgasse. Wohl trifft man es in anderen großen Städten, dass mehrere Zeitungsetablissements nahe zusammengerückt in derselben Straße sich befinden, aber eine Straße, die fast ausschließlich bloß dem Zeitungsvertrieb gewidmet wäre, lässt sich seltener entdecken. Wien ist damit bevorzugt, wenn man es für einen Vorzug erachten will. Es ist die ehemalige Schülergasse, östlich vom Stephansplatz, die ihren Namen von den verschiedenen Schulanstalten der Altstadt Wien, die sich ehedem hier befanden, erhielt und war noch vor wenigen Jahren eine stille, hauptsächlich nur durch Kleingewerbe und Kleinverkehr belebte Gasse, weil sie im Mittelpunkt der Altstadt hierfür ganz besonders günstig gelegen war. Als daher in und nach den wilden Bewegungsjahren 1848 – 49 die politischen Journale und Unterhaltungsblätter aufkamen, siedelten sich hier in der Schulgasse erst einzelne kleine ›Zeitungsverschleißer‹ an, bei denen man auf verschiedene Zeitungen abonnieren und die für dieselben bestimmten Inserate abgeben konnte.

Hierdurch und durch die Nähe der Post wurden allmählich auch einige Zeitungen veranlasst, ihre Expeditionen hierher zu verlegen, und bald folgte ein Journal dem anderen in der Anlegung von solchen Expeditionen und anfangs nur bescheidenen Büros, deren Schild eine an das Fenster über dem Schalter geklebte Nummer der betreffenden Zeitung war. Seither ist dies anders geworden: Seit die Wiener Journale jährlich Millionen umsetzen und größtenteils in das Eigentum von reichen Konsortien übergegangen sind, haben die niedrigen finsteren Läden und Parterrestuben der ehemaligen Expeditionen sich in elegante stattliche Fronten mit Durchfahrten und hohen Spiegelfenstern verwandelt, und die ganze Gasse ist von früh bis spät der Schauplatz einer fieberischen Unruhe. Von Tagesgrauen bis zur Nacht ist hier ein Wogen von Fußgängern und Wagen von und zu den Redaktions- und Expeditions-Büros, den Druckereien usw., und die Austräger und Austrägerinnen von jedem Alter eilen in den bestimmten Stunden wetteifernd herbei, um sich ihren Bedarf an Exemplaren zu holen. Gleichzeitig werden auf Handkarren und Fuhrwerken aller Art die Zeitungspakete nach der Post und zu den Zeitungsverschleißern der entlegeneren Stadtteile und Vorstädte verschickt, denn die Verteilung und Verbreitung der politischen Zeitungen erheischt einen gut organisierten Apparat von Privatagenten in den Tabakverschleiß- und Spezereiläden oder in eigenen Büros der entlegeneren Quartiere und Hauptstraßen, von wo aus die Zeitungen dann erst durch einen Stab von Kolporteuren und Austrägern weiter verbreitet werden. Zur Stunde der Ausgabe der neuen Nummern aber wimmelt die Straße auch von einzelnen Personen, welche entweder vor Begierde brennen, die neuesten Tagesbegebenheiten zu erfahren und die neuesten Stellenangebote kennenzulernen und die sich darum entweder eine Nummer von der betreffenden Zeitung kaufen oder vor der angeklebten neuesten Nummer stehen, um deren Spalten zu durchmustern. Unter diesen Stellensuchern von auswärts sind nun aber sehr viele, die nicht lesen können und daher nach irgendeiner mitleidigen Seele sich umsehen, welche ihnen die betreffenden Stellenangebote finden hilft und verdolmetscht. Zur Zeit aufregender politischer Ereignisse aber verwandelt sich dieser ameisenhaufenartige Menschenverkehr der Zeitungsgasse sehr oft in einen reißenden Strom oder eine wogende Brandung von Menschen, gewährt aber jederzeit einen interessanten Einblick in das Wiener geistige, industrielle und Volksleben.

• Auf epilog.de am 24. Oktober 2023 veröffentlicht

Reklame