Feuilleton – Land & Leute
Eine Schule im Spreewald
Das Buch für Alle • 1876
Der Spreewald ist eine der interessantesten Gegenden der preußischen Provinz Brandenburg und die Heimat ganz sonderbarer Sitten und einer eigentümlichen Bevölkerung. Im Süden des Regierungsbezirks Frankfurt a. d. Oder in der genannten Provinz zieht sich nämlich eine sumpfige, bruchige Niederung in den Kreisen Cottbus, Kalau und Lübben in einer Ausdehnung von sieben Meilen in der Länge und etwa anderthalb Meilen in der Breite entlang, in welcher die Spree langsam dahinfließt. Diese Gegend, welche vor Zeiten einen dichten Sumpfwald bildete, nennt man den Spreewald und teilt ihn in den oberen und den unteren. Der obere Spreewald erstreckt sich von Fehrow bis Lübben und heißt im wendischen Bloto; der untere reicht von Hartmannsdorf bis zum Neuendorfer oder Prahmsee. Die Spree durchzieht diese Niederung mit zahlreichen Armen netzförmig und überschwemmt sie oft, so dass meist vom November bis zum April die tiefer liegenden Teile ganz unter Wasser stehen. Ehedem war dieser ganze Landstrich eine undurchdringliche Wildnis, und nach der zwangsweisen Einführung des Christentums in der Lausitz flüchteten sich viele Wenden in den Spreewald, wurden hier zwar im Lauf der Zeit bekehrt, erhielten aber sonst ziemlich unverfälscht ihr nationales Gepräge, welches sich noch in Lebensweise, Tracht, Sitte usw. augenfällig kundgibt.
Heutzutage ist der Spreewald durch Anlegung von künstlichen Kanälen teilweise entwässert und auf Strecken in Felder und Wiesen umgewandelt worden; allein weitaus der größte Teil der Bodenfläche, namentlich im westlichen Teile, ist noch ganz mit Wald bestanden, nur auf Kähnen zugänglich und reich an Rotwild und Wassergeflügel. Die zum größten Teil wendischen Bewohner leben meist vereinzelt in leinen Kolonien, sind in sieben Dorfgemeinden eingepfarrt, treiben Fischerei, Viehzucht, etwas Ackerbau, aber namentlich einen ergiebigen Gemüsebau, für dessen Produkte sie in Berlin und Dresden gute Märkte finden. Die natürliche Beschaffenheit des Spreewaldes duldet keine Landstraßen, sondern verweist allen Verkehr auf die Wasserstraße. Die Spreewäldler führen daher ein wahrhaft amphibisches Leben, denn alle ihre Boden- und sonstigen Produkte werden auf Kähnen eingefahren und ausgeführt, die goldenen Garben und das duftige Heu, wie die Haufen von Salat- und Kohlköpfen, von Rüben, Rettichen usw. Der einsam wohnende Kolone muss im Kahn zur Kirche und zum Nachbar, die Kinder müssen im Kahn zur Schule; Hochzeiten, Kindstaufen und Leichenbestattungen wenden sich per Wasser nach dem Hauptort des Sprengels, und diese Notwendigkeit drückt dem ganzen äußeren Leben der Spreewäldler seinen eigenartigen, ungewohnten aber malerischen Stempel auf.
Unser Bild greift einen derartigen besonders eigentümlichen und belebten Zug aus dem Leben der Spreewäldler heraus, nämlich den Augenblick, in welchem die Kinder aus den verschiedenen einzelnen Kolonien die Dorfschule verlassen und sich‚ je nach der Nachbarschaft und Zusammengehörigkeit, gruppenweise scharen und in die einzelnen Kähne und Prahme der verschiedenen Kolonien verteilen. Unter Lärm und Lachen, denn der Spreewäldler verleugnet weder in der Tracht noch in der Lebhaftigkeit den slawischen Ursprung, schiffen sich die des Schulzwangs ledigen Mädchen und Jungen in ihren Kahn ein, der kräftigste Knabe ergreift die Ruderstange und stößt den Kahn fort, und unter Scherz und Jubel geht es in die grüne Waldnacht hinein auf den kleinen Kanälen und Wasserarmen, die sich nach allen Seiten hin durchkreuzen, so dass der feine Ortssinn des Einheimischen dazugehört, sich in diesem Labyrinth von Bruch und Wald zurechtzufinden und nach den zerstreuten Gehöften der Außenwohner zu gelangen.