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Die rollende Brücke von Saint-Malo

Das Buch für Alle • 1874

Bei niedriger SeeAnsicht des Apparates bei niedriger See.

Die Städte Saint-Malo und Saint-Servant an der Nordküste von Frankreich liegen bekanntlich beide an der Mündung des Flusses Rance, nur durch einen Meeresarm von einander geschieden, durch welchen die Schiffe in den zwischen beiden Städten liegenden vielbesuchten Hafen einlaufen. Die Bewohner beider Städte mussten seither in dem sehr lebhaften gegenseitigen Verkehr untereinander entweder den weiten Umweg um den ganzen Hafen machen oder über den Meeresarm setzen, was mit mancherlei Schwierigkeiten und Unbehaglichkeiten verbunden war. Ebbe und Flut sind nämlich an den atlantischen Küsten des nördlichen Frankreich sehr stark, und der Unterschied im Wasserstand zwischen den Extremen von Ebbe und Flut beträgt im Durchschnitt etwa 14 Meter und ist so bedeutend, dass zweimal an jedem Tage zur Zeit der Ebbe der Meeresarm, welcher die beiden Städte voneinander trennt, vier Stunden lang ganz trocken gelegt ist. Will man sich daher zu dieser Zeit von der einen Stadt nach der anderen begeben, so hat man keine andere Wahl, als dies zu Fuß zu tun, mithin zunächst die glatten schlüpfrigen Stufen des elf Meter hohen Kai hinabzusteigen und dann die ganze Strecke über einen von Sand und Schlick schlüpfrigen und nassen und darum gefährlichen Boden hinwandernd zurückzulegen, was selbst für kräftige Personen und geübte Fußgänger keine sehr leichte und angenehme Aufgabe ist. Während der Flutzeit dagegen musste man die Überfahrt über den Meeresarm in sehr unbequemen Booten machen.

Bei hoher SeeAnsicht des Apparates bei hoher See.

Um diesen Nachteilen zu begegnen und ein allezeit parates Verkehrsmittel zur Überschreitung dieses Meeresarmes. zu schaffen, hat der Stadtbaumeister von Saint-Servant, ein Herr Leroyer, die sinnreiche Wagen- oder Rollbrücke erfunden, welche wir in zwei Skizzen abbilden. Diese Wagenbrücke läuft mittelst gewöhnlicher Eisenbahnräder auf, einer Schienenbahn, welche in der Sehne des Hafenbeckens zwischen den beiden Städten angelegt ist, und besteht aus einer auf einem hohen festen Gestell von Schmiedeeisen ruhenden Plattform, die mit einer soliden Brustwehr umgeben ist. Die Mitte dieser Plattform nimmt eine Art Eisenbahnwaggon für die Passagiere ein; zu dessen beiden Seiten werden Pferde und Wagen, Waren und Passagiere aufgenommen, und können sich hier allfällig im Freien ergehen, wenn sie nicht vorziehen, im Waggon vor Wind, Sonne und Regen geschützt zu sitzen. Das Einsteigen in die Wagenbrücke geschieht mit der größten Leichtigkeit, denn die Plattform hat gerade die Höhe der Kais, so dass man von denselben gleichsam zu ebener Erde auf die Plattform hinüber steigt, die auch während der Fahrt ihr Niveau nicht verändert. Der Preis der Überfahrt ist je nach dem Platz 6 – 10 Centimes für den Kopf; die Bewegung der Rollbrücke wird mittelst einer feststehenden Dampfmaschine und eines endlosen Seils bewerkstelligt. Der Dienst ist ein vollkommen sicherer und braucht selbst während der stärksten Springflut nicht eingestellt zu werden, wie denn das kleinere unserer Bilder den Dienst der Brücke zur Zeit der Ebbe, das größere aber den Dienst zur Flutzeit zeigt.

• O. M.

• Auf epilog.de am 10. April 2024 veröffentlicht

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