VerkehrNahverkehr

Eine bewegliche Straße für New York

Das Buch für Alle • 1874

Voraussichtliche Lesezeit rund 5 Minuten.

Von Zeit zu Zeit tauchen in der amerikanischen Presse Vorschläge und Pläne auf von einer Kühnheit und Neuheit, dass man auf den ersten Blick sich überrascht zu fragen pflegt, ob man es angesichts eines derartigen Unternehmens mit der ausführbaren Idee eines genialen Mechanikers oder mit dem einfachen Hirngespinst eines Träumers oder Fantasten zu tun habe. Zu diesen Projekten gehört auch dasjenige, welches wir auf unserem Bild geben, nämlich der Plan zu einer beweglichen oder rotierenden Straßenbahn, welche man in New York anzulegen beabsichtigt. Als uns diese neue Idee zum ersten Mal in amerikanischen Zeitschriften begegnete, waren wir eher geneigt, es für eine Zeitungsente oder Mystifikation, oder für einen Humbug zu halten; allein das Projekt tauchte in mehreren Zeitungen nacheinander auf und wurde ernsthaft besprochen, und so schien es doch ernstlich gemeint zu sein.

Das Projekt ist Folgendes: Um in großen und gewerbe­fleißigen Städten wie New York ein rasches, angenehmes und zeiter­sparendes Verkehrsmittel zu schaffen, dessen Baukosten unendlich wohlfeiler und dessen Betrieb unendlich sicherer wäre als alle Tunnel und unterirdischen Eisenbahnen, schlägt der amerikanische Ingenieur Alfred Speer in New York die Erbauung einer ganz eigentümlich konstruierten Gürtelbahn vor, welche in einer Höhe von 4,4 m über dem Niveau des Straßenpflasters rotieren soll. Als etwas ganz Neues bewegen sich auf den Schienen dieser Bahn nicht die Wagen allein, sondern die ganze Bahn selbst, welche gleichsam aus einer beweglichen Plattform von gewalztem Eisen, zusammengesetzt aus zu einem endlosen Band aufgereihten eisernen Schildern oder flachen Platten, besteht, auf deren inneren Seite Bänke, Waggons, kleine Pavillons u. dgl. für die Passagiere befestigt sind, während sich am äußeren Rand auf zwei Schienen, deren eine auf der endlosen Bahn selbst, die andere aber auf einem über den Tragsäulen angebrachten feststehenden Geländer ruht, noch kleine achtsitzige Eisenbahnwaggons bewegen, welche das Ein- und Aussteigen der Passagiere unterwegs vermitteln und die der Erfinder deshalb Übertragungswagen, transfer cars, nennt.

Bewegliche StraßeDie für New York projektierte bewegliche Straße oder beständig rollende Plattform.

Man denke sich also in einer langen und breiten Straße einer Stadt, wie z. B. die Bowery in New York usw., zwei Reihen gusseiserner Pfeiler von zierlicher Form, 4,4 m hoch und von gehöriger Dicke und Tragfähigkeit, welche am oberen und am unteren Ende der Straße je in einer weiten Kurve gegeneinander gerückt sind, wie wir es auf dem Vordergrund unseres Bildes sehen. Diese Pfeiler oder Säulen tragen ein leichtes durchbrochenes Gerüst von Schmiedeeisen und sind durch Stangen und Spreizen untereinander fest verbunden, um jedem Schub oder Seitendruck zu widerstehen. Auf diesem offenen Gerüst sind zwei Schienengeleise in gleicher Höhe auf ein und zwei Drittel der ganzen Breite von der Innenseite her angebracht, und eine dritte, etwa 90 cm höher liegende Schiene auf der Außenseite. Die leichte durchbrochene Plattform ist überdies zu beiden Seiten, nach innen wie nach außen, mit einem festen eisernen Geländer versehen, um jedem Unfall vorzubeugen. Zwischen und unter den beiden unteren Schienen liegen Friktions- und Zahnräder, welche die Bewegung der über den Schienen laufenden endlosen Plattform vermitteln und regeln. Die bewegende Kraft sind verschiedene feststehende Dampfmaschinen, welche jede mittelst einer Transmission die Bewegung an die Zahnräder einer bestimmten Menge von Pfeilern abgibt. Alle diese Dampfmaschinen stehen mittelst einer Telegrafenleitung untereinander in Verbindung, so dass ihre Tätigkeit jeden Augenblick vom rotierenden Zug aus gehemmt oder geregelt werden kann. Das gleichsam endlose Band der Plattform oder beweglichen Bahn, das man einem Transmissionsriemen vergleichen könnte, ist ungefähr 6,4 m breit und in Glieder oder Schuppen von bestimmter Länge eingeteilt (wie auf unserem Bild an den angedeuteten Kurven zu sehen). Diese Glieder sind durch Zapfen kettenartig miteinander verbunden und tragen umschichtig verschiedene festgemachte Waggons von 2,4 m Breite und 7 – 12 m Länge auf der inneren Kante, die einen offen für gute Witterung, die anderen bedeckt gegen Sturm und Regen, abwechselnd mit Bänken, mit Buffets u. dgl. In der Mitte ist ein freier Raum von etwa 2 m Breite, auf welchem die Passagiere spazieren gehen und sich während der Fahrt die Umgebung oder das Treiben auf der Straße unter sich betrachten können, wo Fuhrwerke, Reiter und Fußgänger ungestört verkehren und von der über ihnen rotierenden Eisenbahn in keiner Weise gestört oder gar gefährdet werden, wie es z. B. durch Pferde-Eisenbahnen oder Lokomotiven der Fall sein würde. Die endlose Bahn rotiert mit einer Geschwindigkeit von 7 – 11 km/h. Wer dazu noch seine eigene Geschwindigkeit als Fußgänger nimmt und auf dem freien Raum der rotierenden Plattform vorwärtsschreitet, der kann noch schneller von der Stelle kommen.

An der Außenseite der Plattform sind von Zeit zu Zeit bequeme Treppen angebracht, auf denen die Passagiere behufs des Aus- und Einsteigens verkehren. Dieses geschieht ohne alle Gefahr, und ohne dass der Zug anhält, mittelst der sogenannten Übertragungswagen in folgender Weise (vgl. zudem noch die Vorgänge an den beiden vorderen Treppen auf unserem Bild): die Übertragungswagen, achtsitzig, 1,4 m breit, laufen auf zwei Schienen, deren äußere auf dem offenen Gerüst der Pfeiler, deren innere auf der endlosen Bahn angebracht ist, aber im gleichen Niveau mit letzterer, und sind der geistvollste und scharfsinnigste Teil der ganzen Erfindung. Wenn jemand aussteigen will, so stellt der Schaffner des kleinen Waggons seine Bremse und augenblicklich hören die auf der Schiene der endlosen Bahn laufenden Räder auf sich zu drehen, der Übertragungswagen wird durch die Reibung an den Zug angedrückt, läuft also nur noch auf der feststehenden Schiene und bewegt sich mit dem Zug; der Passagier steigt ein oder aus, nachdem ein weiterer Ruck der Bremse den Wagen bei einer Haltestation auch an die feststehende Außenschiene angedrückt hat, und gelangt nun nach Belieben auf die endlose Bahn, worauf die Bremsung aufgehoben wird und der Wagen wieder mit der ganzen rotierenden Bahn fortläuft. Der Plan ist kühn, aber angesehene amerikanische Ingenieure haben sich in Gutachten dahin ausgesprochen, dass er ausführbar und jedenfalls ungefährlicher und wohlfeiler zu erbauen sei, als alle bisher vorgeschlagenen unterirdischen Tunnel- oder oberirdischen Viadukt-Bahnen, und dass er den übrigen Straßenverkehr einer Stadt durchaus nicht hemme.

• O. M.

Entnommen aus dem Buch:
Die Aufbruchstimmung und der technische Fortschritt im 19. Jahrhundert führten zu immer neuen Erfindungen, die den Verkehr beschleunigen und die Antriebe optimieren sollten. Dabei wurde oft das System von mit Dampflokomotiven bespannten Zügen auf zwei Schienen grundlegend in Frage gestellt. Manche dieser Ideen sind heute wieder aktuell, und so lohnt sich ein unverfälschter Blick auf dieses interessante Kapitel der Verkehrsgeschichte.
  PDF-Leseprobe € 18,90 | 148 Seiten | ISBN: 9-783-7583-7184-4

• Auf epilog.de am 24. September 2025 veröffentlicht

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