VerkehrStraßenverkehr

Der Ei-Wagen

Mit eingekapseltem Motor

Allgemeine Automobil-Zeitung • 23.2.1913

Voraussichtliche Lesezeit rund 4 Minuten.

Das war keine geringe Aufregung, als am vorigen Sonntag auf der Semmering­höhe vor dem ›Erzherzog Johann‹ plötzlich ein Wagen hielt, dessen Karosserie beinahe eine Ei-Form zeigte. Es war gewissermaßen die natürliche Weiterentwicklung der Obus-Form. Die Obus-Karosserie ließ aber doch die Motorhaube außer Kalkül. - R E K L A M E - Die Erfindung der Drahtseilbahnen Sie begann gewissermaßen erst von der Spritzwand an, wo sie einen etwas steiler nach oben gehenden Windschutz aufwies, dann eine schräge Glasscheibe, um schließlich in ein mehr oder minder geschwungenes Dach überzugehen und hinten mit einer eiförmigen Abrundung zu enden.

Doch der Ei-Wagen, den wir heute reproduzieren, ist etwas ganz anderes. Möglichst gleichförmige Ausbildung vorne und hinten, ist das Prinzip dieser seltsamen Karosserie gewesen, und es ist fast lückenlos durchgeführt, bis auf ein ›Luftloch‹ an der Frontseite des Wagens. Dies muss man denn doch lassen, bei aller sonstigen Freude an der runden und abgerundeten Linie. Selbst der Motor ist in die Karosserie eingekapselt. Von eingekapselten Ventilen hat man schon gehört, doch dies dürfte der erste eingekapselte Motor sein.

Ei-Wagen auf dem SemmeringEin Schnappschuss von dem Ei-Wagen auf dem Semmering.
TotalansichtEin eiförmig karossierter 75HP Charron in der Totalansicht.
Der von der Firma Karl Czerny & Co. karossierte Charron-Wagen machte am 16. Februar 1913 auf dem Semmering keine geringe Sensation. Das Publikum war sich uneinig darüber, wie es den Wagen mit dieser Karosserie benennen sollte. Die einen nannten ihn Ei-Wagen, die anderen prägten den Namen Luftschiffkarosserie und ein Teil erklärte, es handle sich um eine auf Rädern rollende Kuba-Zigarre.

Die Idee zu dieser gewiss sehr ungewöhnlichen Karosserie ist von dem Generalvertreter der Charron-Auto­mobile, Herrn Elias, ausgegangen. Sicherlich stellte er damit der Karosseriefirma Karl Czerny & Co. eine sehr schwierige Aufgabe, deren Lösung großes Kopfzerbrechen verursacht haben mag. FrontansichtDer Wagen in der Frontansicht. Die vielen Reflexe in der Karosserie sind eine Folge der gebogenen Form. Man sieht sich darinnen die ganze Winterlandschaft des Semmerings spiegeln. Alles ist rund an diesem Wagen. Nicht nur das Dach und das eiförmige Ende, sondern auch die untere Verkleidung und selbst die Seitenteile. Der Karossier musste alle seine Kunst aufwenden, um die gestellte Forderung erfüllen zu können, und wer das Fahrzeug gesehen hat, der musste anerkennen, dass hier ein Meisterwerk Wiener Karosseriearbeit geschaffen worden ist. Dies gilt sowohl von dem Wagenkasten selbst als auch von der inneren Einrichtung des Fahrzeuges.

Doch die Idee, die Idee. Ist die Idee gut? Ist es vielleicht gar das Vehikel der Zukunft; vorne und hinten geschlossen, mit eingekapseltem Motor, mit eingekapseltem Lenker und mit eingekapselten Insassen, das wie ein Geschoss auf Rädern über die Landstraße saust? Wir glauben kaum. Denn der Automobilmotor darf kein Gefangener sein, er ist an Freiheit gewöhnt, er braucht Luft, Luft und wieder Luft. Den Kühler und überhaupt die Maschine vor dem Zutritt der Luft bewahren zu wollen, wäre ein Kardinalfehler, der besonders während der heißen Jahreszeit zu den ärgsten Unzu­kömmlich­keiten führen müsste.

Nein, wir glauben nicht recht an die Zukunft, obgleich alles möglich ist. Der Karossier hat wunderbare Arbeit geleistet, doch auf die Idee möchten wir lieber kein Patent nehmen.

• Auf epilog.de am 10. Dezember 2025 veröffentlicht

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