VerkehrEisenbahn

Die elektrische Lokomotive von Heilmann

Prometheus • 26.5.1897

Voraussichtliche Lesezeit rund 5 Minuten.

Im Laufe des Jahres 1894 hat die französische Westbahn-Gesellschaft mehrere Versuchsfahrten auf verschiedenen Bahnstrecken mit einer Heilmannschen elektrischen Lokomotive von 769 PS mit so günstigem Erfolg ausgeführt, dass daraufhin die Bahngesellschaft sich entschloss, zwei stärkere und nach den gewonnenen Erfahrungen verbesserte Lokomotiven dieses Systems bauen zu lassen, welche zur Beförderung der regelmäßigen Schnellzüge dienen sollen und, deren Probefahrten in nächster Zeit stattfinden werden. Diese in unseren Abbildungen dargestellte Lokomotive trägt einen gewöhnlichen Lokomotivkessel, welcher zwei dreizylindrige, stehende Verbundmaschinen, deren jede eine auf den Enden der Dampfmaschinenwelle sitzende Dynamomaschine treibt, mit Dampf versorgt. Die beiden Dynamomaschinen liefern den elektrischen Strom zum Betrieb der 8 mit je einer der 8 Treibachsen verbundenen Elektromotoren. Kessel und Maschinen sind auf einer Plattform montiert, die auf zwei langen, durch Querträger verbundenen Hauptträgern ruht. Zwei der Querträger dienen als Auflager auf den beiden vierachsigen Drehgestellen, die in ihrer Mitte einen senkrechten Drehzapfen tragen, über welche die beiden Querträger des Übergestells mit ihren Lagern greifen. Die Elektromotoren sind ohne Zwischenlage von Federn an den Treibachsen befestigt, welche mit den Stromerzeugern durch eine veränderliche Räderübersetzung in Verbindung stehen. Durch letztere Einrichtung wird die Erreichung einer beliebigen Fahrgeschwindigkeit bei entsprechender Erhöhung der Zugkraft ermöglicht und eine ruhige, regelmäßige Achsendrehung gesichert.

Elektrische Lokomotive von Heilmann – AnsichtAbb.1. Ansicht

Der Lokomotivkessel enthält 351 Stück 45 mm weite Siederohre von 3,8 m Länge und ist auf einen zulässigen Dampfdruck von 14 Atmosphären eingerichtet. Die Rostfläche ist 3,34 m², die gesamte Heizfläche 185,47 m² groß. Das Speisewasser befindet sich in Kästen an den beiden Längsseiten des Kessels.

Die erste Versuchslokomotive hatte liegende Dampfzylinder; man hat jetzt stehende Maschinen gewählt, weil sie einen freien Verkehr in dem die Lokomotive von vorn bis zum Führerstand vor der Feuerbüchse des Dampfkessels überdachenden Maschinenhaus gewähren. Beide Maschinen wirken gemeinschaftlich auf die Kurbelwelle, an deren Enden die beiden sechspoligen Dynamomaschinen sitzen, jede der letzteren kann etwa 1000 A unter einer Spannung von 455 V liefern, ist aber vorübergehend zu einer doppelten Leistung befähigt. Die Kurbeln haben Versetzungswinkel von 120°. 400 Umdrehungen bilden die normale Geschwindigkeit, doch können mittelst eines Geschwindigkeitsreglers nach Art eines Zentrifugalregulators Abstufungen von 100 bis 450 Umdrehungen in der Minute eingestellt werden. Die Hochdruckzylinder haben 300 mm, die Niederdruckzylinder 480 mm Durchmesser, der Kolbenhub beträgt 400 mm.

Neben dem hinteren Betriebsdynamo ist noch eine kleine einfache Dampfmaschine von 28 PS zum Betrieb einer vierpoligen Erregerdynamomaschine aufgestellt, welche einen Strom von 140 A und 115 V liefert. Beide Maschinen sind direkt gekuppelt. Der Erregerdynamo dient zugleich zur Zugbeleuchtung. Bei normaler Geschwindigkeit macht sie 550 Umdrehungen.

Die Anker der vierpoligen Elektromotoren der Treibachsen sind auf einer hohlen Welle, welche die Treibachsen mit weitem Spielraum umhüllt und am Drehgestell befestigt ist, angebracht. Durch Mitnehmer wird die Drehung von der hohlen Betriebswelle auf die Achse übertragen. Diese Anordnung ist getroffen worden, um die schädlichen Wirkungen der harten Stöße bei großen Fahrgeschwindigkeiten auf den Kollektor und die Isolierungen zu vermeiden. Für gewöhnlich sind die acht Elektromotoren hinter einander geschaltet, wird aber bei geringer Geschwindigkeit eine große Zugleistung verlangt, so schaltet man sie in zwei Gruppen zu vier. Zur Änderung der Fahrtrichtung dient ein Umschalter, der die Stromrichtung umkehrt. Jeder der acht Elektromotoren ist für eine Leistung von 125 PS bei 100 km/h Fahrgeschwindigkeit befähigt, der eine Zugkraft am Radkranz von 340 kg entspricht. Die Treibräder haben 1,16 m Durchmesser. Erwähnt sei noch, dass das Drehgestell der Lokomotive, auf welcher die Dampfmaschinen stehen, also in der Abb. 2 links, in der Fahrt vorne ist, zur Verminderung des Luft Widerstandes ist deshalb das Maschinenhaus hier keilförmig gestaltet.

Elektrische Lokomotive von Heilmann – Aufriss und GrundrissAbb. 2. Aufriss und Grundriss

Die Gesamtlänge der Lokomotive über die Puffer beträgt 18,59 m, der Abstand von Mitte zu Mitte der äußeren Achsen 15,4 m, der Radstand eines Drehgestelles 4,10 m, von Mitte zu Mitte der Drehzapfen beider Drehgestelle 11,3 m. Die Dampfmaschinen sind für eine Leistung von 1350 PS berechnet, von denen eine Nutzwirkung von 90 %, die gleiche Nutzwirkung von den Elektromotoren, von den Antriebdynamos dagegen eine solche von 95 % erwartet wird. Werden 2 % Verlust in den Leitungen angenommen, so wurde sich eine Gesamtwirkung von 75,4 % ergeben, welche einer Nutzleistung von 1000 PS an den Radkränzen der Triebräder entsprechen würde. Dann würde die Lokomotive bei einer Fahrgeschwindigkeit von 100 km/h eine Zugkraft von 355 t auf ebener Strecke besitzen, so dass sich eine Nutzwirkung von 47,1 % zwischen der mechanischen Zugleistung und der in den Dampfzylindern entwickelten Pferdekraft ergibt. Der Wirkungsgrad der Lokomotive ist verschieden, je nach der Fahrgeschwindigkeit, dem Gewicht der Lokomotive und dem ihres angehängten Tenders und der Streckenneigung. Wird das Durchschnittsgewicht der Lokomotive zu 115 t, das des Tenders zu 17 t und der Zugwiderstand beider bei 100 km/h Geschwindigkeit nach den bisherigen Erfahrungen zu 7 kg auf die Tonne angenommen, so erfordert die Fortbewegung beider eine Zugkraft von 132,7 = 924 kg; da die ganze Zugkraft der Maschine auf ebener Strecke bei 100 km/h 2700 kg am Radumfang beträgt, so bleiben noch 1776 kg für die Fahrzeuge des Zuges verfügbar. Da bei denselben, Drehgestellwagen vorausgesetzt, der Zugwiderstand 5 kg auf die Tonne beträgt, so würde die Lokomotive 1776 / 5 =  355 t ziehen.

Ein Vergleich der Heilmannschen mit einer gewöhnlichen Dampflokomotive, deren Nutzwirkung zu 42 – 43 % angenommen werden kann, fallt zugunsten der ersteren aus, da sie einen größeren Nutzeffekt besitzt und sich durch geringeren Kohlenverbrauch auszeichnet. Ob sie aber im Stande sein wird, die Dampflokomotive zu verdrängen, das wird wohl von ihren Beschaffungs-, Betriebs- und Unterhaltungskosten abhängen, über welche noch die Erfahrungen fehlen.

Entnommen aus dem Buch:
Die ›Zeitreisen‹ knüpfen an die Tradition der Jahrbücher und Zeitschriften ›zur Bildung und Erbauung‹ aus dem 19. Jahrhundert an. Eine bunte Auswahl von Originalartikeln begleitet den authentischen und oft überraschend aktuellen Ausflug in die Geschichte. Kultur- und Technikgeschichte aus erster Hand, behutsam redigiert, in aktueller Rechtschreibung und reichhaltig illustriert.
  PDF-Leseprobe € 14,90 | 124 Seiten | ISBN: 978-3-7543-5702-6

• Auf epilog.de am 26. Oktober 2021 veröffentlicht

Reklame