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Das Eisenbahnunglück auf dem Bahnhof Montparnasse in Paris

Das Neue Universum • 1896

Das Eisenbahnunglück auf dem Bahnhof Montparnasse in Paris

Unter den Eisenbahnunglücken der neuesten Zeit ist das am 22. Oktober 1895 auf dem Bahnhof Montparnasse zu Paris vorgefallene eines der merkwürdigsten, zugleich aber auch der am glücklichsten verlaufenen. Der betreffende Bahnhof, eigentlich Westbahnhof geheißen, aber im Volksmund nach dem benachbarten Kirchhof Montparnasse benannt, liegt im südwestlichen Teil Von Paris an der Place de Rennes. Die Bahnstrecke innerhalb der Stadt, die selbstverständlich Hochbahn ist, hat eine Länge von 2 km. Der auf 8 Uhr 55 Minuten nachmittags von Granville fällige Schnellzug hatte Verspätung, die bei Ankunft auf der Pariser Gürtelstation (in der Nähe der Stadtumwallung) immer noch 7 Minuten betrug. Um diese Zeit nach Möglichkeit noch einzuholen, durchfuhr der Maschinist die städtische Strecke mit ungewöhnlicher Geschwindigkeit. In die Nähe der Station Montparnasse angekommen, zog er die Westinghousebremse an, die aber versagte. Glücklicherweise funktionierte die Bremse des Güterwagens, während der Maschinist Gegendampf gab. Die Geschwindigkeit des Zuges, bzw. dessen Kraft, war jedoch noch groß genug, die am Ende des Geleises angebrachten Prellböcke wegzufegen und die Mauer des Stationsgebäudes zu durchbrechen. Damit muss aber die Kraft des Zuges paralysiert gewesen sein; wäre dies nicht der Fall, würde die auf die Straße herabgestürzte Lokomotive eine mehr geneigte Lage angenommen haben und der Tender hätte sich nicht vertikal auf die Lokomotive stellen können.

Das Innere des Bahnhofs nach dem Unfall.Das Innere des Bahnhofs nach dem Unfall.

Beim Durchbrechen der Bahnhofswand ging gerade eine Zeitungsträgerin vorbei, die durch einen herabstürzenden Steinblock getötet wurde. Dies war aber auch das einzige Opfer. Die Reisenden und das Zugpersonal kamen mit dem Schreck und einigen leichten Verletzungen davon. Unter Umständen hätte der Vorfall aber die furchtbarsten Folgen haben können. Unsere erste Abbildung zeigt die Lage, welche Lokomotive und Tender nach erfolgtem Sturz einnahmen, während die zweite Abbildung die Art und Weise erkennen lässt, wie sich die Wirkung des Stoßes auf den Vorderteil des Zuges geltend machte.

Die bei dieser Gelegenheit gemachte Erfahrung, dass Prellvorrichtungen der Kraft ganzer Eisenbahnzüge keinen Widerstand leisten können, hat die Notwendigkeit der Veränderung, bzw. Verbesserung, dieser Vorrichtungen dargetan. Einen der nach dieser Richtung hin gemachten Vorschläge wollen wir erwähnen, da er uns sehr praktisch erscheint. Dieser Vorschlag geht dahin, die Prellpuffer nach Analogie der Rücklaufshemmvorrichtungen für schwere Schiffsgeschütze mit einer hydraulischen Bremse zu versehen, die imstande sei, einen mit einer Geschwindigkeit von 15 – 16 km/h fahrenden Zug von 250 t Gewicht aufzuhalten. Da solche Bremsen auf Schiffen eine Widerstandsfähigkeit bis zu 400 mt bei nur 80 cm Kolbengang entwickeln, so glaubt man bei Ausdehnung des Kolbenweges auf 5 – 6 m leicht den betreffenden Zweck erreichen zu können.

Entnommen aus dem Buch:
Die ›Zeitreisen‹ knüpfen an die Tradition der Jahrbücher und Zeitschriften ›zur Bildung und Erbauung‹ aus dem 19. Jahrhundert an. Eine bunte Auswahl von Originalartikeln begleitet den authentischen und oft überraschend aktuellen Ausflug in die Geschichte. Kultur- und Technikgeschichte aus erster Hand, behutsam redigiert, in aktueller Rechtschreibung und reichhaltig illustriert.
  PDF-Leseprobe € 14,90 | 124 Seiten | ISBN: 978-3-7543-5702-6

• Auf epilog.de am 27. April 2021 veröffentlicht

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