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Neue Anhängewagen der Wiener Straßenbahn

Elektrische Kraftbetriebe und Bahnen • 4.8.1910

Voraussichtliche Lesezeit rund 4 Minuten.

Die städtischen Straßenbahnen in Wien erhielten vor Jahresfrist 100 und neuerlich wieder 100 zweiachsige Anhänge­wagen, letztere mit 3,4 m festem Radstand bei einer Gesamtlänge von 9,5 m zwischen den Platt­form­brust­wänden. Plattform des Anhängewagens.Abb. 1. Plattform des Anhängewagens. Der Wagenkasten von 5,9 m Länge und 2,2 m Breite, der mit einem breiten, hohen Lüftungsaufbau versehen ist, hat sehr tief nach abwärts reichende einteilige Fenster, die ganz herabgelassen werden können, so dass der Wagen im Sommer fast zu einem offenen Wagen wird (halb­verwandel­bar); die herabgelassenen Fenster werden im Sommer durch aufgeschraubte hölzerne Deckleisten verschlossen, wobei dann der Schutz gegen die Witterungseinflüsse, insbesondere gegen Regen, durch seitliche Leinwand­plachen hergestellt wird. Im Wagenkasten sind 22 Sitzplätze auf Querbänken angeordnet; zufolge des 650 – 750 mm breiten Mittelganges und dessen Erweiterung an den beiden Kastenenden ist die Bewegung im Wagen sehr bequem, so dass an besonders verkehrsreichen Tagen im Wageninneren sogar 12 Stehplätze zugelassen sind.

Der Abschluss des Wagenkastens gegen die Plattformen erfolgt durch große zweiflügelige Schiebetüren mit einer 900 mm breiten Türöffnung.

Neuer Anhänger und Triebwagen.Abb. 2. Neuer Anhänger mit getrenntem Ein- und Ausgang (links) und Triebwagen mit Schutzvorrichtung, bestehend aus Tastgitter und Aufnehmerschaufel.

Jede Plattform erhält auf der dem Bürgersteig zugewendeten Seite zwei Öffnungen, deren eine für das Einsteigen, die andere aber für das Aussteigen der Gäste dient; die Trennung der Ein- und Aussteigenden auf der Plattform geschieht bei den erst­geliefer­ten Wagen durch ein Geländer, bei den neuesten Wagen aber durch ein drehbares Gitter, das in der einen Lage den Ausstieg abschließt (vordere Plattform, Abb. 2), in der anderen Lage aber sich gegen eine auf der Plattform befindliche Säule anlehnt.

Bei dem komplizierten Wiener Tarifsystem (Zonentarif und weitgehende Umsteigeberechtigung) mit den vielen abgestuften Fahrpreisen, die ein fortwährendes Geldwechseln nötig machen, erscheint es leider nicht möglich, diese Wagen nach Art des amerikanischen ›pay as you enter car‹ zu verwenden; es wird aber immerhin durch den getrennten Ein- und Ausstieg und die große Doppelflügeltür, welche von zwei Personen gleichzeitig benützt werden kann, eine Abkürzung der Stations­aufenthalte möglich, was sich bei den schon seit mehreren Jahren im Betrieb befindlichen derartigen Wagen mit zwei seitlichen Plattform­öffnungen für getrenntes Ein- und Aussteigen gut bewährt hat.

- R E K L A M E - Die Kanalisierung der Unterspree

Auf der in der Fahrtrichtung vorderen Plattform wird eine der beiden vorgenannten Plattform­öffnungen durch eine zusammenklappbare Drehtür abgeschlossen (Abb. 2), die am Wagendach eine zum Patent angemeldete Führung erhält, welche eine leichte Beweglichkeit und einen guten Abschluss der Tür ermöglicht; die andere Öffnung wird bei den neuen Wagen durch das vorerwähnte Drehgitter abgeschlossen. Die Stirnwandverschalung der Plattformen erhält ganz oder teilweise herab­lassbare Fenster; die den Ein- und Aussteigeöffnungen gegenüberliegende Seitenwand der Plattformen erhält eine Schiebetür, welche in der Regel geschlossen gehalten wird, aber im Bedarfsfalle geöffnet werden kann; letzteres geschieht insbesondere bei starker Frequenz an den Endstationen auf der vorderen Plattform, um ein rasches Füllen und Entleeren der Wagen in solchen Fällen zu ermöglichen.

Die vordere Plattform ist für 14, die rückwärtige für 10 Stehplätze bestimmt.

Die normale Besetzung dieses Wagens beträgt also 22 Sitz- und 24 Stehplätze, d. i. zusammen 46 Plätze, die außergewöhnliche aber um 17 Stehplätze mehr, also zusammen 63 Plätze.

Zweiachsiger Anhängewagen mit freien Lenkachsen der Gemeinde Wien.Abb. 3. Zweiachsiger Anhängewagen mit freien Lenkachsen der Gemeinde Wien.

Der Wagen ist nach Art der Vollbahnwagen außerordentlich kräftig gebaut, und zwar ohne besonderes Untergestell; er hat eine acht­klötzige Radbremse, auf welche auch ein Solenoid einwirkt, das durch den Kurzschlussstrom vom Motorwagen her betätigt wird.

Das Gewicht der letztgelieferten Wagen beträgt leer samt elektrischer Einrichtung 5750 kg, es entfallen daher auf einen Sitzplatz rd. 261 kg, auf einen Platz überhaupt gewöhnlich 125 kg, bei außerordentlicher Besetzung aber 91 kg.

Mit Berücksichtigung der ganzen Ausstattung erscheint dieses Leergewicht als sehr gering, doch dürfte bei einer im Zuge befindlichen Neubestellung noch eine kleine Gewichtsersparnis erfolgen. Die Wagen sind nach den Entwürfen der städtischen Straßenbahnen von den Waggonfabriken in Graz, Nessels­dorf und Stauding erbaut worden.

• Ludwig Spängler.

• Auf epilog.de am 19. Oktober 2025 veröffentlicht

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