Feuilleton – Alltagsgeschichte
Seegrasernte bei St. Malo
Die Gartenlaube • 1888
Das Meer birgt in seinen Tiefen Gärten von bezaubernder Schönheit. Taucher berichteten uns von deren unbeschreiblicher Pracht, und Forscher stiegen, gelockt von diesen Märchenberichten, in die Tiefe hinab und brachten uns Kunde von der unterseeischen Welt. Sie sagten uns aber, dass die prachtvollen Gärten Werke der Korallentierchen seien, und sie stellten fest, dass das Meer wohl Pflanzen beherberge, aber keine Blumen trage. Die anmutige Flora meidet das düstere Reich des Poseidon. Nur Pflanzen niedrigster Gattung gedeihen in der Salzflut; es sind die Algen, die ›blatt- und blütenlosen Aschenbrödel‹ unter den Kindern des Lichtes. Von den höheren Arten haben sich nur etwa zwanzig mit dem rauen Element zu vortragen gewusst; es sind harte und raue Gewächse, die man ›Seegräser‹ genannt, weil sie unsern Gräsern ähnlich sehen. Und wie unsere Gräser wuchern sie gesellig nebeneinander, bedecken an den Küsten weithin den Boden des Meeres und bilden Meereswiesen, welche für die Bewohner der Salzflut willkommene Schlupfwinkel abgeben. – Sie locken aber auch den Menschen. Der Küstenbewohner weiß die Meereswiesen eben so gut auszunutzen wie der Landmann die blumengestickten Wiesen des Festlandes. Er erntet das gemeine Seegras (Zostera marina, Wasserriemen) und weiß es nützlich zu verwenden: Er verschickt es landeinwärts, wo es als Matratzenpolster oder Packmaterial verbraucht wird, oder er baut mit dem ›Wier‹, wie der Holländer es nennt, feste Deiche, die das Land vor dem feindlichen Meer schützen. Er erntet auch die Algen und verwendet sie bald als Nahrungs-, bald als Heilmittel, kocht aus ihnen schmackhafte Suppen oder bereitet das Karrageen oder Irländische Moos; ja diese Meerespflanzen bilden sogar die Grundlage nicht unbedeutender Industrien. Agar-Agar, jene leimartige Gelatine der Chinesen, wird aus verschiedenen Algenarten hergestellt, und aus Algen werden gleichfalls die heilkräftigen Jodsalze gewonnen.
Nirgends aber wird die Seegrasernte mit solchem Nachdruck betrieben wie in jenen Gegenden Frankreichs, in welche uns die stimmungsvolle Illustration Arthur Calames versetzt. In vielen Buchten der Normandie und Bretagne sind nach Schleidens Angabe gegen 30 000 Menschen mit Einsammeln der Tange beschäftigt, und alte Bräuche, die sich m der Bretagne bis jetzt erhalten haben, regeln die Ausbeutung der Meereswiesen. Der erste Tag für das Schneiden des ›Goëmon‹ (Tang) im Herbst heißt ›der Tag der Armen‹; vom frühen Morgen an ist der Priester am Strand, und wenn etwa ein Reicher sich blicken lässt, so weist er ihn mit den Worten zurück: »Lasset die Armen ihr täglich Brot sammeln.« – Düstere Herbststimmung liegt auf dem Strandbild von St. Malo, welches uns Calame vorführt; öde erscheint die Landschaft; aber die zerklüfteten Felsen am linken Rande des Bildes erinnern uns daran, dass die Bucht von St. Malo malerischer Reize nicht entbehrt. Ja, im Sommer pflegt an diesem Strande fröhliches Badeleben zu herrschen und man weilt gern in dem Städtchen, in dessen Mauern die Wiege Chateaubriands stand, und lässt sich mitten in die Bucht auf das Felseneiland Ile du Grand Bey hinausrudern, zu dem stillen Grabe des Sängers der Atala.