VerkehrSchifffahrt

Die Ketten- oder Seilschifffahrt

Das Neue Universum • 1882

Der Umstand, dass bei den Rad- oder Schraubendampfern selbst unter den günstigsten Verhältnissen nicht viel mehr als die Hälfte der in Anwendung gebrachten Kraft verwertet wird, da der von den Motoren entwickelte Druck auf einen flüssigen Körper ausgeübt wird, der nach allen Seiten ausweichen kann, führte zu der Idee, diesen flüssigen Körper durch einen festen zu ersetzen und dadurch jene verloren gehende Kraft wieder zu gewinnen. Die Lösung dieser Aufgabe, die indes nur bei Flüssen und Kanälen ausführbar ist, fand man in der auf dem Schiff aufgestellten Windetrommel, die durch irgendeine Kraft, am besten natürlich Dampfkraft, in Bewegung gesetzt, ein Seil oder eine Kette aufwindet, die an irgendeinem Punkt des zu befahrenden Gewässers befestigt ist, sonst aber auf dem Grund ruht.

Abgesehen von einem Versuch, der von dem bekannten Marschall von Sachsen, dem Sohn August des Starken und der Gräfin Aurora von Königsmarck, angestellt worden sein soll, beginnt die Sache erst durch die 1818 von den französischen Ingenieuren Tourasse und Courteaut angestellten Proben greifbare Gestalt zu gewinnen. Sie konstruierten ein Boot von 23 m Länge, das mit einer Plattform versehen war, auf welcher ein sechspferdiger Göpel aufgestellt war, der die beiden Trommeln einer unter der Plattform angebrachten Friktionswinde in Bewegung setzte. Dieses Schiff arbeitete abwechselnd mit zwei Seilen von je 1000 m Länge, in der Weise, dass wenn das eine aufgewickelt war, das andere in Gebrauch genommen wurde. Begreiflicherweise entstanden hierdurch aber einmal viel Kraftverlust und dann auch ein nutzloser Zeitaufwand. Die Sache wurde nicht viel gebessert durch den Versuch eines anderen französischen Ingenieurs Namens Vinchon, wobei derselbe eine Kette und eine Dampfmaschine in Anwendung brachte. Dadurch, dass die Kettenbahn immer auf kurze Strecken, der Fortbewegung des Schiffes entsprechend, erneuert und jedes Mal an den Trommeln wieder befestigt werden musste, ging ebenfalls viel Zeit und Kraft verloren, wobei überdies die Hebung der Kette vom Grunde bis zur Windetrommel noch eine besondere Anstrengung erforderte.

In dieser Gestalt hatte also die Kettenschifffahrt wenig Aussicht auf Erfolg, bis endlich Rigny durch Anwendung der fortlaufenden Kette, wie er solche 1825 auf der Seine bei Rouen zuerst in Anwendung brachte, jene Übelstände mit einem Mal hob. Die fortlaufende Kette wird am Anfang wie am Ende der zu befahrenden Strecke festgeankert, läuft in mehreren Windungen um die durch Dampfkraft gedrehte Trommel und sinkt, wie sie am vorderen Teil des Schiffes aufgehoben wird, am hinteren wieder auf den Grund, wobei das Niedersinken immer so viel Kraft ersetzt, als das Aufheben der Kette in Anspruch nimmt. Regelmäßige Kettenschifffahrten wurden seit der Mitte der vierziger Jahre in Frankreich und seit 1866 auch in Deutschland eingerichtet.

In Belgien kehrte man dann wieder zur Anwendung des Seiles zurück, wodurch die der Kette anhaftenden Übelstände – Neigung sich zu verwickeln und größere Kosten der Anschaffung – beseitigt wurden. Auch wandte man dort zuerst die Fowlersche Seilscheibe an, welche die Eigentümlichkeit besitzt, das Gleiten des Seiles zu verhindern, selbst wenn es die Trommel nur einmal umwindet. Dass hierdurch abermals Kraft gespart wird, leuchtet ein.

In dieser Gestalt bietet die Seilschifffahrt, auch Tauerei genannt, so viele Vorteile der seitherigen Schleppschifffahrt gegenüber, dass sie sich neben derselben auf zahlreichen Flüssen mit Erfolg behauptet hat, ja nach Ansicht vieler berufen ist, jene allmählich zu verdrängen. Dies liegt nicht außer dem Bereich der Möglichkeit, denn das Betriebsmaterial bei der Kettenschifffahrt kostet kaum den zehnten Teil wie bei der Schleppschifffahrt, während auch der Betrieb selbst, in Kohlenverbrauch, Löhnen und Reparaturen, ebenfalls nur etwa den zehnten Teil von jener ausmacht. Die Leistung aber ist dabei mindestens dieselbe.

• Auf epilog.de am 12. Juni 2024 veröffentlicht

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