VerkehrEisenbahn

Hydraulische Gleitbahn

System Girard

Prometheus • 1889

Auf der Esplanade der Invaliden in Paris ist vor kurzem versuchsweise eine Eisenbahnlinie in der Länge von 150 m erbaut und in Betrieb gesetzt worden, welche dadurch von allen bisher bekannten Systemen abweicht, dass die Wagen ganz ohne Räder sind.

Zwar war der Hydrauliker L. D. Girard schon im Jahr 1854 auf den Gedanken gekommen, um die Reibung der Räder zu umgehen, die Wagen auf einer schmalen Wasserbahn durch Druck fortzubewegen, doch blieb es bei diesem ersten Versuch. Seine früheren Mitarbeiter haben aber jetzt die Idee wieder aufgenommen und von neuem den Versuch gemacht, doch muss er sich erst bewähren, bevor sich ein Urteil über den Wert der Erfindung abgeben lässt. Immerhin ist die Idee dieser Anlage originell genug, um schon jetzt unser Interesse in Anspruch zu nehmen.

Die Idee, welche die Erbauer leitete, besteht wie gesagt darin, die Lokomotive sowohl wie die Räder durch Anwendung von Wasser entbehrlich zu machen. Der Zug enthält einen Betriebs- und vier Personenwagen. Jeder von ihnen ruht auf sechs rechteckigen Sohlen, welche im Inneren hohl und mit einer Reihe enger Nuten versehen sind. Diese Sohlen ruhen auf zwei breiten, platten Schienen, die das Gleis bilden. Um nun die Reibung der Sohlen auf den Schienen zu überwinden, wird, ehe sich der Zug in Bewegung setzt, Wasser unter jede Sohle geleitet, welches aus dem im vordersten Wagen angebrachten Reservoir zugeführt und mit Hilfe von komprimierter Luft, die sich in einem zweiten Reservoir daselbst befindet, beständig unter Druck gehalten wird. Dieses Wasser findet nun keinen anderen Ausweg als nach der Höhe, und da es unter allen Sohlen gleichzeitig einfließt, muss sich der ganze Zug notwendigerweise heben, er beginnt zu schwimmen und steht gewissermaßen auf einer Reihe ganz dünner Wasserkissen. Die Reibung ist außerordentlich verringert. Das Verhältnis ist ähnlich, wie es beim Schlittschuhlaufen eintritt, bei welchem ebenfalls durch die Reibung eine dünne Schicht Eis zu Wasser verflüssigt und als Schmiermittel zwischen den Schlittschuh und das Eis gelegt wird.

Als Fortbewegungsmechanismus dient ein System von Schaufeln, welche an allen Wagen angebracht sind und ein auf die ganze Länge des Zuges wirkendes Triebwerk bilden. Auf der Strecke sind in gewissen Abständen Wasserzuflüsse angebracht, welche sich im Moment, in dem der Zug sie passiert, öffnen und dann wieder schließen. Ohne auf die Einzelheiten des Mechanismus eingehen zu wollen, können wir denselben einer sehr langen geradlinigen Turbine vergleichen, deren beweglicher Teil sich in der Richtung der Gleise vorschiebt und nacheinander alle Zuflüsse passiert. Der eigentliche Betriebsmechanismus ist also völlig stabil und die Triebkraft wird von außen auf den Zug übertragen. Zu diesem Zweck läuft eine Hauptwasserleitung unter der ganzen Länge der Strecke und speist in regelmäßiger Folge die Ausflussöffnungen, welche sich selbsttätig wieder schließen, sobald der Zug vorübergefahren ist. Der ganze Mechanismus sowohl an den Wagen als auf der Strecke ist in entgegengesetzter Anordnung doppelt vorhanden und ermöglicht somit dem Zuge sich beliebig vor- oder rückwärts zu bewegen,

Dieses ist, in großen Zügen, das System Girard, dem sein Nachfolger Barre noch mannigfache Verbesserungen hinzugefügt hat. Die Vorzüge des Systems sind mancherlei; vor allen sind die unangenehmen Erschütterungen und das Schwanken der Wagen beseitigt, der Zug gleitet so ruhig dahin wie ein Schlitten auf dem Eis, er macht kein Geräusch, lässt sich leicht bremsen und anhalten und verursacht weder Rauch noch Staub; das Schmieren fällt fort, ebenso die Unterhaltungskosten für Räder, Reifen und Puffer; die Betriebskosten sind gering, und, wenn man den Zeitungsberichten Glauben schenken darf, ist die Möglichkeit geboten, eine große Fahrgeschwindigkeit zu erzielen, die sich bis auf 200 km/h belaufen soll.

Die hydraulische Gleitbahn und namentlich das bei derselben angewandte Prinzip der Reibungsüberwindung würde, wenn es sich überhaupt bewährt, sich vornehmlich für bergige Gegenden mit reichen natürlichen Wassergefällen eignen, welche der Anlage gewöhnlicher Eisenbahnen wegen zu großer Steigungen Schwierigkeiten bereiten; ferner an Stelle der Drahtseilbahnen, welche vielfachen Unfällen ausgesetzt sind, für große Massentransporte, für ober- und unterirdische Stadteisenbahnen, bei denen Rauch und Lärm vermieden werden soll u. a. m.

Entnommen aus dem Buch:

Neuerscheinung

Die Aufbruchstimmung und der technische Fortschritt im 19. Jahrhundert führten zu immer neuen Erfindungen, die den Verkehr beschleunigen und die Antriebe optimieren sollten. Dabei wurde oft das System von mit Dampflokomotiven bespannten Zügen auf zwei Schienen grundlegend in Frage gestellt. Manche dieser Ideen sind heute wieder aktuell, und so lohnt sich ein unverfälschter Blick auf dieses interessante Kapitel der Verkehrsgeschichte.
  PDF-Leseprobe € 18,90 | 148 Seiten | ISBN: 9-783-7583-7184-4

• Auf epilog.de am 14. Februar 2023 veröffentlicht

Reklame