Straßenbahnen in Berlin
Die Erdrosselung des Verkehrs
Ein ›erbauliches‹ Straßenbahnprogramm
Vossische Zeitung • 6.9.1923
Die erste Tat der neuen Straßenbahn-Gesellschaft ist die Aufstellung eines Notverkehrsprogramms, dessen Bestimmungen nur als verkehrsfeindlich bezeichnet werden können und die schärfste Zurückweisung herausfordern. Dieses unerhörte Programm geht von dem Grundsatz aus, dass das Straßenbahnnetz auf ein Minimum zu beschränken sei. Daher hat man einen Plan aufgestellt, der das Zentrum der Stadt von den Vororten ganz trennt. Um einige Beispiele zu geben: Bisher verkehrten auf dem Kurfürstendamm vier Linien, die zusammen eine Wagenfolge von etwa vier Minuten Abstand ergaben. Die neue Gesellschaft streicht kurzerhand drei Linien und lässt von nächster Woche an nur noch eine im Abstand von 15 Minuten verkehren. Damit sollen also künftig die Bewohner von Halensee, Wilmersdorf, Grunewald und in der Nähe des Kurfürstendamms gelegene Teile von Charlottenburg das Stadtinnere erreichen. Auch dass die Vororte Tempelhof, Mariendorf und Lichterfelde dicht bewohnt sind, scheint der neuen Straßenbahn-Gesellschaft unbekannt zu sein, denn sie lässt zwischen dem Stadtinneren und diesen drei Orten ebenfalls nur noch eine einzige Linie mit einem 15-Minuten-Verkehr bestehen. Ähnlich bedacht sind alle übrigen Vororte, und nicht besser sieht es im Stadtinneren aus.
Die neue Gesellschaft gibt auch die Gründe an, aus denen sie zu diesen Verkehrseinschränkungen schreitet. Sie will nämlich zunächst feststellen, ob die Frequenz auf den einzelnen Strecken sich im Laufe der Zeit heben wird, um dann einen Ausbau des Verkehrs vorzunehmen. Das nennt man das Pferd vom Schwanz aufzäumen. Gerade in den letzten Tagen hat sich der Verkehr wegen des hohen Stadtbahntarifs sehr gesteigert. Anstatt dass die neue Gesellschaft den jetzt schon sehr eingeschränkten Verkehr bei der günstigen Konjunktur verstärkt (viele Linien sind schon wieder überfüllt), drosselt sie den Verkehr ab. Wie man einen völlig lahmgelegten Verkehr auf die Frequenz der Fahrgäste hin beobachten kann, bleibt das Geheimnis der neuen Gesellschaft.
Überhaupt scheint sich bei der neuen Gesellschaft wenig im Vergleich zur alten geändert zu haben. Im Aufsichtsrat sitzen sieben Stadtverordnete, drei Stadträte und ein Bezirksbürgermeister. Die sieben Stadtverordneten, also die Majorität, gehörten auch dem bisherigen Verwaltungsrat an. Und statt dass man den zuständigen Verkehrs-Dezernenten, Stadtbaurat Dr. Adler, in den Aufsichtsrat wählte, nahm man sich einen Bezirksbürgermeister, den Sozialdemokraten Schneider vom Bezirk Mitte, der bisher noch nicht bewiesen hat, dass er von Verkehrsangelegenheiten etwas versteht. Zu begrüßen ist lediglich die Wahl des Professors Dr. Giese als technischer Sachverständiger, eines Mannes, der im Straßenbahnwesen gut Bescheid weiß.
Die heutige Stadtverordneten-Versammlung wird sich mit der neuen Gesellschaft noch einmal eingehend beschäftigen. Nachdem zunächst in der gestrigen Sitzung der Verkehrs-Deputation von den Vertretern aller Fraktionen gegen die Art, in der die neue Gesellschaft den Verkehr wieder ›aufrichten‹ will, Protest erhoben worden ist, liegt der heutigen Stadtverordneten-Versammlung ein Dringlichkeitsantrag der Deutschnationalen vor, in dem aufs schärfste gegen die Zusammensetzung dieser neuen Gesellschaft protestiert und ein gemischt-wirtschaftlicher Betrieb gefordert wird.
Auch mit den Angestellten ist es schon zu Unstimmigkeiten über die Lohnfrage gekommen. Die neue Gesellschaft erklärt, dass es vorläufig unmöglich sei, den Straßenbahn-Angestellten die bisher üblichen Reichsarbeiter-Tarife zu bezahlen. Auch soll die Arbeitszeit einer genauen Revision unterworfen werden; man will die Wartezeit der Angestellten an den Endhaltestellen nicht mehr in die Dienstzeit hineinrechnen. Daraufhin hielt der Betriebsrat der Straßenbahn gestern mit den Vertretern des Verbandes der Staats- und Gemeindearbeiter eine Besprechung ab, deren Ergebnis war, dass man unter allen Umständen an den bisherigen Bedingungen festhalten wolle. Es sollen heute mit den gewerkschaftlichen Organisationen der städtischen Arbeiter und mit dem Betriebsrat der Straßenbahn noch einmal Verhandlungen stattfinden, in denen die Lohn- und Zeitfrage grundsätzlich geklärt werden soll.
Sollte der Notverkehrsplan zur Tatsache werden, so wird hoffentlich der Entrüstungssturm der Berliner Bevölkerung die Gesellschaft sehr schnell eines Besseren belehren.