Handel & Industrie – Maschinenbau
Elektrische Kraftübertragung
Der Stein der Weisen • 1891
Die Überlegenheit des zivilisierten Menschen gegenüber den Naturvölkern beruht in erster Linie auf genauer Kenntnis der Naturkräfte und auf der Fähigkeit, dieselben seinen Zwecken dienstbar zu machen. So viel aber auch in dieser Richtung schon erreicht ist, einen so hohen Aufwand von ernstem Studium und praktischem Scharfblick die neueren und besseren Erzeugnisse unserer Maschinenbau- und Ingenieurkunst auch bekunden, Größeres ist noch zu vollbringen, gerade die wichtigsten und wirkungsreichsten Kräfte sind erst in geringem Maße oder gar nicht nutzbar gemacht worden. Wir erinnern nur an die ungeheure Menge von Wärme, welche uns von der Sonne Jahr für Jahr gespendet wird und deren Effekt man einem Verbrauch von 180 Billionen Tonnen Steinkohlen gleich schätzt, an die riesigen Kraftäußerungen der Sonne und des Mondes auf die Wassermassen der Erdoberfläche, welche sich in den Gezeiten, dem Phänomen der Ebbe und Flut, an unseren Meeresküsten zeigen.
Wir bezeichnen im Nachfolgenden als ›Energie‹ alle Kundgebungen elementarer Naturkräfte, gleichviel, ob sie sich als Wärme oder Elektrizität, als chemische Verwandtschaft oder mechanische Arbeit zeigen, ob sie als wahrnehmbare oder kinetische Energie auftreten oder als latente, resp. ruhende, wie z. B. im Schießpulver und Dynamit.
Aber es ist gar nicht nötig, auf die großartigen Einwirkungen anderer Weltkörper zu verweisen, es liegen andere Beispiele für unsere obige Behauptung viel näher. Welche ungeheuren Kräfte repräsentiert die Bewegung des Wassers in unseren Gebirgsflüssen und großen Strömen. Allein am Niagarafall in Nordamerika stürzen stündlich 100 Millionen Tonnen Wasser aus einer Höhe von 150 Fuß herab und entwickeln durchschnittlich 16 800 000 Pferdekräfte, welche jetzt keinen anderen Effekt haben, als die Temperatur des Wassers am Fuße des Falles um den neunten Teil eines Grades zu erhöhen. Die Kohlenproduktion der ganzen Erde würde kaum hinreichen, um diese Wassermasse wieder auf ihre frühere Höhe zu pumpen. – Wenn nun ein einzelner Wasserfall schon einen solchen bedeutenden Verlust an Energie repräsentiert, was wird dann auf der ganzen Erde im Durchschnitt verloren gehen? Mit Recht fragt Siemens: Verträgt es sich wohl mit den Prinzipien der Nutzbarmachung aller Naturkräfte, solche enorme Quantitäten von Energie fast ganz unbenutzt zu lassen?
Die hauptsächlichste Schwierigkeit einer Nutzbarmachung dieser Elementarkräfte liegt darin, dass sie meist, fast ausschließlich, in gebirgigen öden Gegenden, fern von den Wohnsitzen des Menschen, von den Heimstätten großartiger industrieller Tätigkeit auftreten, und nur in seltenen Fällen ist es möglich, letztere dorthin zu verlegen, wo billige Betriebskraft zu Gebote steht. Man muss also danach trachten, die Betriebskraft selbst fortzuleiten oder aber sie an Ort und Stelle in transportabler, leicht wieder nutzbar zu machender Form aufzuspeichern. Ersteres bewirkten unsere Vorfahren, namentlich für Zwecke des Bergbaues und Hüttenbetriebes oft in großartigem, staunenerregendem Maße durch ihre Wasserleitungsbauten. Wer, um nur ein Beispiel anzuführen, die Oberharzer Wasserwirtschaft kennengelernt und beobachtet hat, mit welchem Scharfblick man die geeignetsten Stellen für Anlage der vielen Hunderte von Sammelteichen auszuwählen verstanden, wie man von diesen das Aufschlagwasser in meilenlangen Grabentouren den höchst gelegenen Betriebsstätten zugeführt und von dort aus stufenweise in einer langen Reihe talabwärts bis zur norddeutschen Ebene sich hinziehender und der fortschreitenden Verarbeitung der Erze und Metalle angepasster Betriebsstätten jeden Fuß des Wassergefälles ausgenützt hat, der wird den Erbauern dieser Wasserwerke seine Bewunderung über die genial konzipierte und mit äußerster Ökonomie durchgeführte Ausnützung vorhandener Naturkräfte im Dienst der Industrie nicht versagen können.
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