Forschung & TechnikTechnik

Eine Orgel, die von selbst spielt

Die Abendschule • 25.10.1878

Ein Wunder der Neuzeit ist das in Baltimore erfundene, sogenannte ›Needhamsche musikalische Cabinet‹, d. h. eine Orgel, die von selbst spielt. Der Spielende hat weiter nichts zu tun, als das Musikstück in richtiger und bestimmter Weise auf den ihm zukommenden Platz zu legen und die Bälge zu treten, alles Übrige besorgt die Orgel selbst. Der Bau und die Zusammensetzung des Instruments beruhen, wie bei den meisten Epoche machenden Erfindungen, auf eine höchst einfache Idee. Es hat keine komplizierten verwickelten Bestandteile, die beim Gebrauch bald leiden und unbrauchbar werden können, sondern man erblickt nur eine Reihe von Pfeifen, die sämtlich auf einer Fläche ausmünden und, sobald die Bälge in Bewegung gesetzt werden, ertönen. Wenn man sämtliche Pfeifen bedeckt und eine offen lässt, so gibt nur diese eine ihren Ton von sich. Lässt man zwei oder drei unbedeckt, so werden nur diese und keine anderen Pfeifen ihre bestimmten Töne erklingen lassen. Auf dieser schon vor längerer Zeit gemachten Erfahrung beruht nun das Grundprinzip der neuen Erfindung. Wenn man nämlich ein starkes breites Papier, in welchen an gewissen Stellen Löcher angebracht sind, über die Fläche der Pfeifen auf Rollen ausbreitet und hingleiten lässt, so wird, sobald ein Loch des Papiers über den Mund einer Pfeife zu liegen kommt, diese Pfeife ihren vollen bestimmten Ton von sich geben.

Ist das Loch in dem Papier ein einfacher Kreis, so lässt die Pfeife einen einzelnen kurzen Ton erklingen, ist das Loch ein langer Schlitz, so ertönt die Pfeife, solange derselbe die Mündung der Röhre passiert. Auf diese Weise lassen sich nach Belieben kurze und gedehnte Töne vom gemessensten Andante bis zum bewegtesten Allegretto, brillante Tonleitern, Läufer, feierliche Akkorde usw. mit größter Präzision erzeugen. Das Äußere des Instrumentes ist das einer gewöhnlichen Orgel, nur fehlt hier die Klaviatur.

Die Musikalien, die auf diesem neuen Instrument gespielt werden sollen, müssen natürlich besonders zu diesem Zwecke eingerichtet, und auf speziell stark präpariertem Papier nicht mehr, wie früher, gedruckt, sondern gewissermaßen eingestochen werden. Sie sind jedoch von vorzüglicher Dauerhaftigkeit und eigentlich kaum abzunutzen, und im Übrigen auch mit geringen Kosten wieder neu herzustellen. Obgleich dieses neue Instrument sich noch in seinem Kindheitsstadium befindet, steht ihm doch schon ein recht umfangreiches Repertoire zur Verfügung, welches alle möglichen Arten von Etüden, Sonaten, Balladen, Volksweisen, Märschen, komischen. Tanz-, Walzer-und, nicht zu vergessen, auch Kirchenmusik umfasst. Die Tragweite dieser höchst genialen Erfindung ist in der Tat noch gar nicht abzusehen. Was den Ton anbetrifft, so ist er rein, harmonisch, kräftig und unterscheidet sich in keiner Weise von demjenigen anderer Orgeln.

• Auf epilog.de am 8. April 2024 veröffentlicht

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