VerkehrEisenbahn

Ein neuer Motor

Die Gartenlaube • 1888

Seit einigen Monaten bewegt sich in Cannstatt an manchen Tagen während der Mittagszeit auf einem eigens gelegten schmalspurigen Schienengleis ein lustiger Wagen, in dem sich mehrere Personen fahren lassen. Das Auffällige an dieser Beförderung nach Pferdebahnmanier ist, dass weder Pferde dabei benutzt werden, noch eine sichtbare Maschine oder die dazu schon mehrfach verwandte elektrische Kraft sie bewirkt. Man sieht für den Betrieb dieses Gefährtes, das zunächst probeweise in Dienst gestellt ist, nur einen Schaffner und bei ihm einen kleinen Kasten, der im Dreitakt ein klapperndes Ticke-Tacke hervorbringt. Hält der Wagen nach flotter Fahrt am Ziel, um an demselben Tage nicht weiter benutzt zu werden, so trägt der Schaffner jenen Kasten davon und mit ihm die ganze Maschine, welche den Wagen bewegt hat, als zöge ihn ein munteres Pferdchen.

Wagen mit dem neuen MotorWagen mit dem neuen Motor von Daimler.

Von Zeit zu Zeit ist auch schon ein kleiner Eisenbahnzug auf der württembergischen Bahn hingeeilt, ohne dass er eine Lokomotive vorgespannt hatte. Hohe Herren, Minister, Eisenbahndirektoren, Ingenieure haben diese Schnellfahrt mitgemacht und sich dabei mit eigenen Augen überzeugt, wie dieselbe lediglich durch jenen kleinen Apparat im Inneren des Waggons, der mit den Wagenachsen durch ein Räderwerk in Verbindung gesetzt wird, zur Ausführung gelangt.

Andere Proben solcher Art sind mit Draisinen und mit gleichem Erfolg unternommen worden. Auf dem Neckar bei Cannstatt, auf dem Waldsee bei Baden-Baden vor der großherzoglichen Familie, auf dem Bodensee bei Friedrichshafen vor der Königin Olga, auf dem Rummelsburger See bei Berlin unter Teilnahme von Beamten des preußischen Marineministeriums, wurde mit demselben Apparat ein kleines Schraubenboot in Fahrt gestellt und machte dieselbe schnell und leicht wie ein Dampfschiff. Offenbar würde die gleiche praktische Verwendbarkeit dieses Motors auch für Luftschifffahrt stattfinden können und überall da, wo überhaupt eine mechanische Krafterzeugung, wie sie durch Dampf, Elektrizität, Gas und Petroleum heute schon in verschiedenste Anwendung bei Maschinen gekommen ist, begehrt wird.

Das Eigenartige dieses neuen, bereits überall patentierten Krafterzeugers, den der Ingenieur Daimler in Cannstatt erfunden hat, besteht in seiner überall ohne Umständlichkeit und aufs billigste zu ermöglichenden Leistungsfähigkeit. Wie er in den erwähnten Fahrten bereits hundertfache Proben überzeugend bestanden, ist er in einem kleinen Kasten enthalten, der nur 60 kg Gewicht hat und überall hingestellt oder sonst wie angebracht werden kann. Mit einem halben Liter Petroleum in der Stunde erzeugt er, was in der Technik eine Pferdekraft bedeutet. Entsprechend vergrößert vermag er auch nach Belieben entsprechend mehr Kraft zu liefern. Letztere wird bewirkt durch die Gasentwickelung des durch eine Lampe erwärmten Petroleums, welche sich mit der atmosphärischen Luft im Behälter vermengt und zu einer Explosion führt; genau geregelt in ihrer Wirkung, wiederholt sich dieselbe fort und fort und nimmt äußerlich vernehmbar den Charakter eines dreitaktigen Pendelschlags an.

Entnommen aus dem Buch:
Die ›Zeitreisen‹ knüpfen an die Tradition der Jahrbücher und Zeitschriften ›zur Bildung und Erbauung‹ aus dem 19. Jahrhundert an. Eine bunte Auswahl von Originalartikeln begleitet den authentischen und oft überraschend aktuellen Ausflug in die Geschichte. Kultur- und Technikgeschichte aus erster Hand, behutsam redigiert, in aktueller Rechtschreibung und reichhaltig illustriert.
  PDF-Leseprobe € 14,90 | 124 Seiten | ISBN: 978-3-7543-5702-6

• Auf epilog.de am 6. September 2016 veröffentlicht

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