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Ein Besuch im Leesdorfer Automobil-Werk

Allgemeine Automobil-Zeitung • 25.3.1900

Voraussichtliche Lesezeit rund 5 Minuten.

Dem Einfluss von Erfindergenies, wie die der Bollées vermag sich der Automobilismus in Österreich schwer zu entziehen, und so sehen wir eine große Aktiengesellschaft, die Leesdorfer Automobil-Werke, dabei, die Patente Amedée Bollées zu verwerten, während einer der erfolgreichsten Wiener Fahrradhändler, Herr John C. Kirsch, die Vertretung Léon Bollées übernommen hat.

Leesdorfer Bollée-VictoriaLeesdorfer Bollée-Victoria

Ein Zufall war es allerdings, dass ich von beiden Seiten zugleich eine Einladung erhielt; die eine betraf die Besichtigung der Leesdorfer Fabrik, die andere eine Probefahrt mit dem Darracq-Bollée-Wagen des Herrn Kirsch, was war also naheliegender, als beides miteinander zu verbinden? Und ich war wahrhaftig nicht böse darüber, zur Fahrt nach Baden anstatt eines dumpfigen Eisenbahncoupes ein raschlaufendes Automobil benützen zu können, denn ein wundervoller Vorfrühlingstag breitete seinen Sonnenschein über die noch schneenassen Felder, deren schwarze Erdfarbe sich unter den warmen Strahlen in wenigen Wochen mit dem ersten grünen Schimmer überziehen wird.

Herr Direktor August Wärndorfer empfing mich in der Fabrik.

Als ich zum ersten Male in den Räumen der Leesdorfer Automobil-Werke weilte, war an die seit Jahren außer Betrieb befindliche Fabrik von Escher, Wies und Comp. noch keine ordnende Hand gelegt worden. Noch starrten die Wände voll Schmutz und große Risse in· ihrer Verkleidung bezeichneten die Stellen, wo ehemals Transmissionen und andere Maschinenteile eingelassen waren. Die Türen und Fenster hingen schief in ihren Angeln, und der Boden war mit fußhohem Schutt bedeckt.

In überraschend kurzer Zeit hat sich das Bild geändert, und ich begreife sehr wohl, dass der Mann, dessen Energie diese Veränderung durchgeführt hat, stolz auf sein Werk ist.

In dem Kesselhaus, das durch eine Erhöhung der Decke aus einem dunklen, niederen Gemach in einen hellen weiten Raum Verwandelt worden ist, wird wieder geheizt, und eine Dampfmaschine von 60 PS dreht bereits die Transmissionen in dem großen Arbeitssaal. Hier ist der Boden fein säuberlich betoniert worden, und mächtige Werkzeugmaschinen, durchwegs erstklassige amerikanische Marken, haben Aufstellung gefunden.

Da gibt es Zylinderbohrmaschinen, die auf den Hundertstelmillimeter genau arbeiten; Räderschneidmaschinen für konische und Stirnräder, Sägen, die armdicke Stahlstanzen wie Holz durchschneiden; Drehbänke und eine Reihe anderer Präzisionsmaschinen.

Trotz dieser zahlreichen Maschinen ist doch nur die eine Hälfte dies riesigen Saales besetzt, die gegenüberliegende beherbergt eine Reihe halbfertiger Automobile, an denen eifrig gearbeitet wird. Unter ihnen finden wir einen alten Bekannten, es ist dies der Wagen, auf dem Doktor Ritter v. Stern im vergangenen Jahre über 10 000 km zurückgelegt hat, und der zur bevorstehenden Saison einem gründlichen ›Overhauling‹ unterzogen wird.

Ein paar coquette Petit-Ducs und ein Lastwagen vervollständigen das Bild des Saals.

In einer Seitenabteilung haben Maschinen Unterkunft gefunden, die zur Herstellung von allerlei Werkzeug verwendet werden.

Sodann führt uns Direktor Wärndorfer in einen Raum, der gewissermaßen das geheime Kabinett der Automobilfabriken zu bilden pflegt: in die Versuchswerkstätte. Vorläufig werden hier aber noch keine monströsen Rennwagen mit Ausschluss der Öffentlichkeit hergestellt wie bei Panhard oder bei Mors in Paris, oder geheimnisvolle Neukonstruktionen geprüft, aber es sind immerhin einige interessante Dinge zu sehen.

Da ist eine Bremsvorrichtung für Motoren und eine für komplette Automobile. Zuerst wird der Motor allein auf seine Pferdekraft gebremst. Dabei hat man die in Laienkreisen vielleicht nicht bekannte Beobachtung gemacht, dass ein 9-pferdiger Motor anfangs 5 Pferdekräfte zeigte. Man ließ die Maschine mehrere Tage auf dem Stativ arbeiten, und die Kraft stieg, je mehr sich der Motor einarbeitete, bis er schließlich die vorgeschriebene Stärke hatte. Mitunter kommt es aber auch vor, dass der Motor nur eine schwache Steigerung der Kraft zeigt, dann ist irgend etwas faul im Staate Dänemark; vielleicht hat sich ein Ventil um den zehnten Teil eines Millimeters verschoben, vielleicht dichten die Kolbenringe nicht genügend ab, vielleicht ist eine hindernde Reibung vorhanden. O, es gibt so viele ›Vielleicht‹ bei einem neuen Motor. Dann heißt es eifrig an dem Fehler suchen, bis der Motor schließlich seine normale Arbeit tut.

Ist die Maschine in Ordnung und in den Wagen eingebaut, dann erfolgt die Bremsung des Wagens; denn es kommt mitunter vor, dass die Übertragungsmechanismen aus irgendeinem Grund mehr Kraft absorbieren, als sie dürfen.

Ein ganz besonderer Trick der Bollée-Leute ist es, die Ventile heiß einzupassen. Sie sagen ganz richtig, dass ein bei normaler Temperatur eingepasstes Ventil beim Arbeiten unter den heißen Dämpfen derartigen Veränderungen ausgesetzt ist, dass es dann unmöglich gleich gut dichten könne. Das Verfahren soll dem Motor eine ganze Pferdekraft mehr geben.

Noch ein interessantes Objekt beherbergt der Raum: Baron Turckheims Rennwagen, dessen erste Schnelligkeit ›nur‹ 15 km beträgt. Man will für München – Wien, Baden – Graz usw. gerüstet sein. Ein Wagen gleichen Kalibers ist überdies in Vorbereitung.

Neben dem Versuchsraum wird die Gießerei eingerichtet, während eine Reihe anderer Räumlichkeiten Magazinen, Büros und der 1000 m² großen Garage reserviert bleibt.

Wir sind bei unserem Rundgange wieder ins Freie getreten. Ein weiter Platz neben der Fabrik ist in einen Fahrplatz umgewandelt worden. Alle Schwierigkeiten des öffentlichen Verkehrs, scharfe Kurven, glitschiges Pflaster und dergleichen, werden hier dem Schüler künstlich geschaffen, und auf einer 15 %-Steigung kann er seinen Wagen im Bergfahren erproben.

Und damit haben wir eigentlich alle Teile der Fabrik durchwandert. Doch halt, abseits, mit der Front gegen die uralten Bäume des zur Fabrik gehörigen Parks gerichtet, liegt noch ein Trakt, mit weiten, hohen Fenstern, überragt von zierlichen Türmchen. Hierher dringt der Lärm der Fabrik nur als leichtes Surren, und es ist gut so, denn dieser Teil ist kein Feld des struggle of life, er ist das behagliche Wohnhaus des Direktors, dem hierher die Sorgen seiner Stellung nicht nachfolgen mögen.

• Auf epilog.de am 23. Oktober 2017 veröffentlicht

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